Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
karg, in Erwartung des Schnees.
Meistens ist es mir so vorgekommen, als zögen sich die Schultage ewig hin â auÃer bei Tests und Arbeiten, wo die Sekunden beim Versuch zu entkommen übereinanderzustolpern schienen. Heute ist es auch so. Egal, wie sehr ich mir wünsche, dass alles ganz langsam geht, strömt die Zeit davon, blutet aus. Ich habe gerade mal mit der zweiten Frage von Mr Tierneys Test angefangen, als er schon ruft: »Die Zeit ist um!«, und uns allen einen grimmigen Blick zuwirft, so dass ich mein Blatt unvollständig abgeben muss. Ich weiÃ, es spielt keine Rolle, aber ich habe trotzdem mein Bestes gegeben. Ich möchte einen letzten Tag erleben, an dem alles ganz normal ist. Einen Tag wie eine Million anderer Tage. Einen Tag, an dem ich meinen Chemietest abgebe und mir Sorgen mache, ob Mr Tierney wohl je seine Drohung wahr macht, bei der Boston University anzurufen. Aber ich bedauere die Sache mit dem Test nicht lange. Ich bin jetzt darüber hinweg, Dinge zu bedauern.
Als Mathe ansteht, gehe ich früh nach unten. Ich bin ganz ruhig. Schon ein paar Minuten vor dem Läuten setze ich mich auf meinen Platz, hole mein Mathebuch raus und lege es vor mir mitten auf den Tisch. Ich bin die erste Schülerin.
Mr Daimler kommt zu mir und lehnt sich lächelnd an meinen Tisch. Mir fällt zum ersten Mal auf, dass einer seiner Schneidezähne ganz besonders spitz ist wie bei einem Vampir. »Was ist das denn, Sam?« Er zeigt auf meinen Platz. »Drei Minuten zu früh und auf den Unterricht vorbereitet? Beginnst du ein neues Leben?«
»So was Ãhnliches«, sage ich ruhig und falte die Hände auf meinem Mathebuch.
»Und wie läuft der Valentinstag dieses Jahr für dich?« Er steckt sichein Pfefferminzbonbon in den Mund und beugt sich weiter vor. Es widert mich an. Glaubt er etwa, er könne mich mit frischem Atem verführen? »Irgendwelche groÃen romantischen Pläne heute Abend? Gibt es jemanden, der sich an dich kuscheln wird?« Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Vor einer Woche wäre ich jetzt einer Ohnmacht nahe gewesen. Heute bin ich vollkommen cool. Ich muss daran denken, wie rau sich sein Gesicht auf meinem angefühlt hat, wie schwer er war, aber davon werde ich weder wütend noch ängstlich. Ich fixiere seine Hanfkette, die wie immer aus seinem Hemdkragen hervorblitzt. Zum ersten Mal kommt mir das irgendwie erbärmlich vor. Wer trägt schon acht Jahre lang das Gleiche? Das wäre ja, als wenn ich immer noch die Zuckerketten umhätte, die ich in der fünften Klasse so toll fand.
»Mal sehen«, sage ich und ziehe die Mundwinkel nach oben. »Und Sie? Werden Sie ganz allein sein? Ein Tisch für eine Person?«
Er beugt sich noch weiter vor und ich rühre mich nicht, zwinge mich, nicht zurückzuweichen.
»Wie kommst du darauf?« Er zwinkert mir zu, offensichtlich glaubt er, dass das meine Art zu flirten ist â als würde ich ihm gleich anbieten, ihm Gesellschaft zu leisten oder so was.
Mein Lächeln wird noch breiter. »Wenn Sie eine richtige Freundin hätten«, sage ich leise, aber deutlich, so dass er jedes Wort genau verstehen kann, »würden Sie keine Schülerinnen anbaggern.«
Mr Daimler zieht hörbar die Luft ein und zuckt so schnell zurück, dass er beinahe vom Tisch fällt. Jetzt kommen auch andere Leute in den Klassenraum, die sich unterhalten, Rosen vergleichen und uns nicht weiter beachten. Wir könnten ja über die Hausaufgaben oder eine Note reden. Er starrt mich an und sein Mund klappt auf und zu, aber kein Ton kommt heraus.
Es läutet. Mr Daimler schüttelt sich und stolpert vom Tisch weg, wobei er mich immer noch anstarrt. Dann dreht er sich einmal im Kreis, als wüsste er nicht, wo er ist. SchlieÃlich räuspert er sich.
»Also dann, Leute.« Seine Stimme bricht und er hustet. Als er weiterspricht, klingt es wie ein Bellen. »Setzt. Euch. Alle. Hin.«
Ich sehe ihm zu, wie er sich abwendet, in seiner Tasche nach einem weiteren Pfefferminzbonbon kramt und zusammenzuckt, als er sich noch eins in den Mund steckt, und ich muss mir den Mund zuhalten, um nicht loszulachen. Mr Daimler wirft mir einen entrüsteten Blick zu, woraufhin es mir nur noch schwerer fällt, das Lachen zu unterdrücken. Ich schaue von ihm weg zur Tür.
Genau in dem Moment, als Kent McFuller hereinspaziert kommt.
Unsere Blicke treffen sich
Weitere Kostenlose Bücher