Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

und weiß, dass Ms Winters gegangen ist. Gott sei Dank. Angesichts ihres Bettgeflüsters hatte ich mir schon Sorgen gemacht, einer weiteren fünfminütigen Knutsch-Symphonie ausgesetzt zu werden. Ich bin nicht sicher, ob meine Kniesehnen oder meine Psyche das verkraftet hätten.
    Nachdem er ein paar Sekunden lang herumgeräumt und auf der Tastatur herumgeklickt hat, höre ich, wie Otto zur Tür geht. Der Raum neben mir wird dunkel. Dann geht die Tür auf und zu, und ich weiß, dass die Luft jetzt rein ist.
    Ich stoße ein lautloses Halleluja aus und stehe auf. Die Nadelstiche in meinen eingeschlafenen Beinen sind so heftig, dass ich beinahe hinfalle, aber ich tappe zur Tür und lehne mich dagegen. Als ich es nach draußen geschafft habe, stampfe ich mit den Füßen auf und atme tief die frische Luft ein. Schließlich lasse ich es raus: Ich werfe den Kopf zurück und lache hysterisch, gackernd und schnaubend, und es ist mir völlig egal, ob ich aussehe, als wäre ich geistesgestört.
    Ms Winters und der verdammte Mr Otto. Wer hätte das in einer Million, einer Billion Jahren gedacht?
    Als ich von der Sporthalle weggehe, muss ich daran denken, wie komisch die Leute sind. Man sieht sie jeden Tag – man denkt vielleicht sogar, man kennt sie – und dann stellt man fest, dass man so gut wie gar nichts über sie weiß. Ich verspüre ein Hochgefühl, als würde ich in einem Whirlpool herumgewirbelt und kreiste immer näher um dieselben Leute und dieselben Ereignisse, sähe die Dinge aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
    Ich kichere immer noch, als ich das Hauptgebäude erreiche, obwohl Mr Howser ausflippen wird, weil ich zu spät komme, und ich noch an meinem Schließfach vorbei- und mein Buch holen muss. (Er hat uns am ersten Tag gesagt, wir sollten unsere Bücher wie Kinder behandeln. Ganz offensichtlich hat er keine.) Ich schicke gerade eine SMS an Elody, Ally und Lindsay ab – ihr glaubt nie, was grad passiert ist!  –, als ich boing! in Lauren Lornet reinrenne.
    Wir stolpern beide rückwärts und mein Handy fliegt mir aus der Hand und schlittert über den Gang.
    Â»Scheiße!« Wir sind so fest zusammengestoßen, dass es einen Augenblick dauert, bis ich wieder zu Atem gekommen bin. »Pass doch auf, wo du hinläufst.«
    Ich gehe auf mein Handy zu und überlege, ob ich sie zur Kasse bitten kann, wenn das Display zerbrochen ist oder so, da packt sie mich fest am Arm. »Was zum …?«
    Â»Sag’s ihnen«, stößt sie aufgeregt hervor und schiebt ihr Gesicht direkt vor meins. »Du musst es ihnen sagen.«
    Â»Wovon redest du?« Ich versuche mich loszumachen, aber sie packt auch meinen anderen Arm, als wollte sie mich schütteln. Ihr Gesicht ist rot und fleckig und sie sieht überall ganz klebrig aus. Offensichtlich hat sie geweint.
    Â»Sag ihnen, dass ich nichts Verbotenes getan habe.« Sie blickt ruckartig über ihre Schulter. Wir stehen genau vor dem Hauptbüro und ich sehe sie in diesem Moment so, wie sie gestern war, wie sie mit den Haaren vor dem Gesicht über den Gang gestürzt ist.
    Â»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest«, sage ich so sanft wie möglich, weil sie sich so merkwürdig benimmt. Wahrscheinlich hat siezweimal in der Woche einen Termin bei der Schulpsychologin, um ihre Paranoia oder Zwangsneurose oder was immer ihr Problem ist, in den Griff zu kriegen.
    Sie holt tief Luft. Ihre Stimme zittert. »Die glauben, ich hätte in Chemie bei dir abgeschrieben. Beanie hat mich zu sich bestellt … aber ich habe nicht abgeschrieben. Ich schwöre bei Gott, dass ich das nicht getan habe. Ich habe gelernt …«
    Ich mache eine ruckartige Bewegung nach hinten, aber sie hält meine Arme weiter fest. Das Gefühl, in einem Whirlpool gefangen zu sein, kehrt zurück, aber diesmal ist es fürchterlich: Ich werde immer weiter nach unten gezogen, als läge ein Gewicht auf mir.
    Â»Du hast bei mir abgeschrieben?« Meine Worte fühlen sich an, als kämen sie aus weiter Ferne. Ich klinge gar nicht wie ich selbst.
    Â»Hab ich nicht, ich schwöre, ich …« Lauren wird von einem Schluchzer geschüttelt. »Er lässt mich durchfallen. Er hat gesagt, er würde mich durchfallen lassen, wenn meine Noten nicht besser würden, und ich habe mir einen Nachhilfelehrer besorgt und jetzt glauben sie … er hat