Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

hysterisch. »Was ist passiert? Ist was mit Dad?«
    Mrs Carter blinzelt und scheint ihren Blick auf uns scharf zu stellen, als wäre sie gerade aus einem Traum aufgeschreckt. »Nein, nein. Es ist nichts mit deinem Vater.« Sie holt tief Luft, dann lässt sie sie laut ausströmen. »Hört zu, Mädchen. Was ich euch jetzt sagen werde, ist ganz furchtbar. Ich sage es euch überhaupt nur, weil ihr es sowieso bald erfahren werdet.«
    Â»Sag’s uns einfach, Mom.«
    Mrs Carter nickt langsam. »Ihr alle kennt Juliet Sykes.«
    Das ist ein Schock. Wir sehen uns total verwirrt an. Von allen Dingen, die Mrs Carter in diesem Augenblick hätte sagen können, rangierte »Ihr alle kennt Juliet Sykes«, glaube ich, ziemlich weit oben auf unserer Liste des Unerwarteten.
    Â»Ja. Und?« Ally zuckt mit den Achseln.
    Â»Nun, sie …« Mrs Carter bricht ab, streicht ihr Nachthemd glatt und beginnt erneut. »Das war Mindy Sachs eben am Telefon.«
    Lindsay hebt die Augenbrauen und Ally stößt einen wissenden Seufzer aus. Wir alle kennen auch Mindy Sachs. Sie ist fünfzig und geschieden, aber kleidet und benimmt sich immer noch wie eine Zehntklässlerin. Sie ist eine größere Klatschtante als irgendjemand an unserer Schule. Immer wenn ich Ms Sachs sehe, muss ich an das Spiel denken, das wir als Kinder gespielt haben, wo jemand einem anderen ein Geheimnis ins Ohr flüstert und der Nächste es wiederholen muss und immer so weiter, nur dass in Ridgeview Ms Sachs die Einzige ist, die das Flüstern übernimmt. Sie und Mrs Carter sind zusammen im Schulforum und deshalb weiß Mrs Carter immer, wer sich gerade scheiden lässt, wer gerade sein ganzes Geld verloren hat und wer eine Affäre hat.
    Â»Mindy wohnt direkt neben den Sykes«, fährt Mrs Carter fort. »Offenbar wimmelte es in der letzten halben Stunde in der Straße nur so von Krankenwagen.«
    Â»Ich kapier’s nicht«, sagt Ally und vielleicht ist es die Uhrzeit oder der Stress der letzten Tage, aber ich kapiere es auch nicht.
    Mrs Carter hat die Arme vor der Brust verschränkt und drückt sie ein bisschen, als wäre ihr kalt. »Juliet Sykes ist tot. Sie hat sich heute Nacht das Leben genommen.«
    Stille. Absolute Stille. Ally hört auf, an den Nägeln zu kauen, und Lindsay sitzt so unbeweglich da, wie ich es noch nie gesehen habe. Ein paar Sekunden lang glaube ich wirklich, mein Herz hört auf zu schlagen. Ich habe das eigenartige Gefühl, mich in einem Tunnel zu befinden, als wäre ich aus meinem Körper katapultiert worden und sähe jetzt aus großer Ferne darauf hinab, als seien wir für ein paar Augenblicke nur Bilder unser selbst.
    Mir fällt plötzlich eine Geschichte ein, die meine Eltern mir mal erzählt haben: Früher, als die Thomas-Jefferson-Highschool die Selbstmörderschule genannt wurde, hat sich ein Typ in seinem eigenen Schrank erhängt, mitten zwischen den nach Mottenkugeln riechenden Pullovern und alten Turnschuhen und so was. Er war ein Loser und spielte im Orchester und hatte kaum Freunde. Ich glaube, er hatte auch eine Art Geburtsfehler, wovon eine seiner Gesichtshälften immer so herunterhing. Deshalb hat sich keiner gewundert, als er starb. Die Leute waren natürlich traurig und all das, aber sie haben es verstanden.
    Aber im Jahr darauf – im Jahr nach dem betreffenden Tag – brachte sich einer der angesagtesten Typen der Schule auf genau dieselbe Art um. Alles war genau gleich: Art, Zeit, Ort. Nur dass dieser Typ der Kapitän der Schwimmmannschaft und der Fußballmannschaft war, und als die Polizei den Schrank betrat, standen da offenbar so viele Pokale auf den Schrankbrettern, dass es aussah, als sei er in einer goldenen Gruft beigesetzt worden. Er hinterließ nur eine einzeilige Nachricht: Wir sind alle Henker.
    Â»Wie?«, fragt Elody. Ihre Stimme ist kaum ein Flüstern.
    Mrs Carter schüttelt den Kopf und einen Augenblick denke ich, sie weint vielleicht. »Mindy hat den Schuss gehört. Sie dachte, es sei ein Silvesterknaller. Sie dachte, es sei ein Streich.«
    Â»Sie hat sich erschossen?« Ally sagt es leise, beinahe ehrfürchtig, und ich weiß, dass wir alle dasselbe denken: Das ist die allerschlimmste Art.
    Â»Wie sind sie …« Elody rückt ihre Brille zurecht und leckt sich über die Lippen. »Weiß man, warum?«
    Â»Es gab keinen Abschiedsbrief«, sagt