Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
Mrs Carter und ich schwöre, ich kann etwas durch den Raum gehen hören: ein winziges Ausatmen. Einen Seufzer der Erleichterung. »Ich dachte, ihr solltet das wissen.« Sie geht zu Ally hinüber, beugt sich vor und küsst sie auf die Stirn. Ally weicht zurück, vielleicht vor Überraschung. Ich habe Mrs Carter Ally noch nie küssen sehen. Ich habe Mrs Carter noch nie so mütterlich wirken sehen.
    Nachdem Mrs Carter gegangen ist, sitzen wir alle da, während sich die Stille ausdehnt und in großen Ringen um uns herum ausbreitet. Ich spüre, dass wir alle auf etwas warten, aber ich weiß nicht genau, worauf. Schließlich bricht Elody das Schweigen.
    Â»Glaubt ihr …« Elody schluckt und sieht von einer zur anderen. »Glaubt ihr, es ist wegen unserer Rose?«
    Â»Red keinen Quatsch«, fährt Lindsay sie an. Ich kann allerdings erkennen, dass sie betroffen ist. Ihr Gesicht ist blass und sie knetet den Rand ihrer Decke. »Es war schließlich nicht das erste Mal.«
    Â»Das macht es nur noch schlimmer«, sagt Ally.
    Â»Wenigstens wissen wir, wer sie war.« Lindsay merkt, wie ich ihre Hände anstarre, und sie legt sie fest in ihren Schoß. »Die meisten Leute haben so getan, als wäre sie unsichtbar.«
    Ally beißt sich auf die Lippe.
    Â»Trotzdem, an ihrem letzten Tag …« Elody beendet den Satz nicht.
    Â»Es ist bestimmt das Beste für sie«, sagt Lindsay. Das ist sogar für ihre Verhältnisse heftig, und wir starren sie an.
    Â»Was ist?« Sie hebt ihr Kinn und starrt herausfordernd zurück. »Ihr denkt doch alle dasselbe. Sie war unglücklich. Sie ist geflüchtet. Aus und vorbei.«
    Â»Aber – es hätte doch besser werden können«, sage ich.
    Â»Hätte es nicht«, erwidert Lindsay.
    Ally schüttelt den Kopf und zieht die Knie an die Brust. »Meine Güte, Lindsay.«
    Ich stehe unter Schock. Das Unverständlichste daran ist die Pistole. Es ist so eine brutale, laute, körperliche Art, es zu tun. Blut und Hirnmasse und glühende Hitze. Wenn sie es tun musste – sterben –, hätte sie ertrinken sollen, einfach ins Wasser gehen, bis es über ihr zusammenschlug. Oder sie hätte springen sollen. Ich sehe Juliet vor mir, wie sie herumschwebt, als würde sie von Luftströmen getragen. Ich kann mir vorstellen, wie sie die Arme ausbreitet und von einer Brücke oder der Kante irgendeiner Schlucht springt, aber in meinem Kopf beginnt sie mit dem Wind aufzusteigen, sobald ihre Füße sich vom Boden lösen.
    Keine Pistole. Pistolen sind was für Krimiserien, Supermarktüberfälle, Cracksüchtige und Bandenkriege. Nicht für Juliet Sykes.
    Â»Vielleicht hätten wir netter zu ihr sein sollen«, sagt Elody. Sie sieht dabei zu Boden, als wäre es ihr peinlich, das zu sagen.
    Â»Also bitte.« Lindsays Stimme ist verglichen damit laut und hart. »Man kann nicht jahrelang mies zu jemandem sein und dann ein schlechtes Gewissen haben, wenn derjenige stirbt.«
    Elody hebt den Kopf und starrt Lindsay an. »Ich habe aber ein schlechtes Gewissen.« Ihre Stimme wird fester.
    Â»Dann bist du eine Heuchlerin«, sagt Lindsay. »Und das ist schlimmer als alles andere.«
    Sie steht auf und knipst das Licht aus. Ich höre, wie sie zurück aufs Sofa klettert und mit den Laken raschelt, während sie es sich bequem macht.
    Â»Wenn ihr mich bitte entschuldigen wollt«, sagt sie, »ich habe Schlaf nachzuholen.«
    Eine Weile lang ist es vollkommen still. Ich bin mir nicht sicher, ob Ally sich auch hinlegt, aber als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich, dass sie das nicht getan hat: Sie sitzt immer noch mit hochgezogenen Knien da und starrt geradeaus.
    Nach einer Weile sagt sie: »Ich schlafe oben.« Sie sammelt ihr Laken und ihre Decke zusammen, wobei sie extra viel Lärm macht, wahrscheinlich, um Lindsay zu ärgern.
    Einen Moment später sagt Elody: »Ich gehe auch hoch. Das Sofa ist so unbequem.« Sie ist offensichtlich auch verstimmt. Wir schlafen schon seit Jahren auf diesem Sofa.
    Nachdem sie gegangen ist, sitze ich eine Weile da und höre auf Lindsays Atem. Ich frage mich, ob sie schläft. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich selbst bin wacher denn je. Allerdings hat sich Lindsay schon immer von den meisten anderen Leuten unterschieden, war weniger sensibel und teilte die Welt in Schwarz und Weiß

Weitere Kostenlose Bücher