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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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auf.
    Â»Raus«, sagt sie leise mit zorniger Stimme.
    Â»Was?« Die kalte Luft strömt in das Auto wie ein Schlag in denMagen und lässt mich ernüchtert zurück. Der Rest meiner Wut und Furchtlosigkeit verschwindet und ich bin einfach nur müde.
    Â»Lindz.« Elody versucht zu lachen, aber heraus kommt nur ein hohes, hysterisches Geräusch. »Du kannst sie doch nicht zu Fuß gehen lassen. Es ist eiskalt draußen.«
    Â»Raus«, wiederholt Lindsay. Jetzt fahren die ersten Autos um uns herum, dabei hupen alle und kurbeln ihre Fenster runter, um uns anzuschreien. Alles, was sie sagen, geht im Motorenlärm und im Gehupe unter, aber es ist trotzdem demütigend. Die Vorstellung, jetzt auszusteigen, gezwungen zu sein, den Rinnstein entlangzulaufen, während Dutzende Autos an mir vorbeifahren und mich all diese Leute angucken, lässt mich tiefer in meinen Sitz sinken. Ich sehe Elody an, damit sie mir weiter hilft, aber sie guckt weg.
    Lindsay beugt sich herüber. »Ich. Habe. Gesagt. Raus. Hier«, flüstert sie. Ihr Mund ist so nah an meinem Ohr, dass man glauben könnte sie verrate mir ein Geheimnis, wenn man sie nicht hören würde.
    Ich schnappe mir meine Tasche und steige hinaus in die Kälte. Die eisige Luft an meinen Beinen lähmt mich beinahe. Sobald ich aus dem Auto ausgestiegen bin, jagt Lindsay den Motor hoch und rast mit noch offener Tür davon.
    Ich gehe den mit Blättern und Müll angefüllten Graben, der neben der Straße verläuft, entlang. Meine Finger und Zehen fühlen sich fast sofort taub an und ich stampfe mit den Füßen auf die gefrorenen Blätter, um mein Blut in Bewegung zu halten. Es dauert eine Weile, bis sich der Stau auflöst, und die Autos am Ende fahren immer noch hupend davon, was klingt wie das leiser werdende Pfeifen eines vorbeifahrenden Zuges.
    Neben mir hält ein blauer Toyota. Eine Frau beugt sich heraus – grauhaarig, wahrscheinlich um die sechzig – und schüttelt den Kopf.
    Â»Du bist ja verrückt, Mädchen«, sagt sie und sieht mich stirnrunzelnd an.
    Einen Augenblick stehe ich einfach da, aber als das Auto losfährt, fällt mir ein, dass es keine Rolle spielt, gar nichts spielt eine Rolle, also hebe ich den Mittelfinger und hoffe, dass sie es sieht.
    Den ganzen Weg zur Schule über wiederhole ich es immer und immer wieder – es spielt keine Rolle, gar nichts spielt eine Rolle –, bis die Wörter selbst jede Bedeutung verlieren.
    Eins der Dinge, die ich an jenem Morgen gelernt habe: Wenn man eine Grenze überschreitet und nichts passiert, verliert die Grenze ihre Bedeutung. Es ist wie mit dem Rätsel von dem Baum, der im Wald umfällt. Macht das auch dann ein Geräusch, wenn niemand da ist, der es hört?
    Man zieht immer wieder eine neue Grenze, immer ein bisschen weiter weg, und überschreitet sie jedes Mal. So verlassen manche Leute irgendwann die Erde. Ihr wärt überrascht, wie leicht es ist, aus der Umlaufbahn auszubrechen, an einen Ort geschleudert zu werden, wo niemand einen berühren kann. Sich zu verlieren – verloren zu gehen.
    Oder vielleicht wärt ihr auch nicht überrascht. Vielleicht wissen einige von euch das bereits. Denen kann ich nur sagen: Es tut mir leid.
    An diesem Morgen schwänze ich fast den ganzen Unterricht, einfach weil ich es kann, und verbringe ein paar Stunden damit, ziel- und richtungslos durch die Gänge zu laufen. Beinahe hoffe ich, dass mich jemand anhält – ein Lehrer oder Ms Winters oder ein Beratungslehrer oder irgendjemand  – und fragt, was ich da mache, oder mich sogar unumwunden des Schwänzens beschuldigt und zum Schulleiter schickt. Der Streit mit Lindsay hat mich nicht befriedigt und ich habe immer noch das vage, aber dringliche Verlangen, irgendetwas zu tun.
    Aber die meisten Lehrer nicken oder lächeln nur oder winken mir halb zu. Sie kennen meinen Stundenplan nicht, wissen nicht, ob ich eine Freistunde habe oder Unterricht ausgefallen ist, und ich bin enttäuscht darüber, wie einfach es ist, die Regeln zu brechen.
    Als ich in Mr Daimlers Stunde komme, sehe ich ihn absichtlich nicht an, aber ich kann seinen Blick auf mir spüren, und nachdem ich mich hingesetzt habe, kommt er direkt zu mir.
    Â»Noch ein bisschen früh im Jahr für Strandklamotten, meinst du nicht?« Er grinst.
    Normalerweise werde ich immer nervös, wenn er mich länger als

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