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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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haben.«
    Â»Haben sie nicht.« Noch etwas, wovon ich schlechte Laune habe, ist die zehnminütige gebrüllte Auseinandersetzung mit meiner Mutter, bevor ich aus dem Haus gestürmt bin. Sogar als Izzy sich in ihrem Zimmer versteckte und mein Vater mir androhte, mir Hausarrest bis zu meinem Lebensende aufzubrummen (Ha!) , ließen sich die Wörter nicht aufhalten. Es fühlte sich so gut an zu schreien, wie wenn man Schorf aufkratzt und es wieder anfängt zu bluten.
    Â»Du gehst nicht durch diese Tür, bevor du oben warst und dir mehr angezogen hast«, sagte meine Mutter. »Du wirst dir eine Lungenentzündung holen. Und was noch wichtiger ist, ich will nicht, dass die Leute in der Schule einen falschen Eindruck von dir kriegen.«
    Und plötzlich war alles in mir zerrissen – zerbrochen und zerrissen. » Jetzt kümmert dich das?« Beim Klang meiner Stimme zuckte sie zurück, als hätte ich ausgeholt und sie geschlagen. » Jetzt willst du mir helfen? Jetzt willst du mich beschützen?«
    Was ich eigentlich sagen wollte, war: Wo warst du vor vier Tagen? Wo warst du, als mein Auto mitten in der Nacht von der Straße geschleudert wurde? Warum hast du nicht an mich gedacht? Warum warst du nicht da? In diesem Moment hasse ich meine Eltern: dafür, dass sie ruhig bei uns zu Hause gesessen haben, während mein Herz da draußen in der Dunkelheit die letzten Sekunden meines Lebens klopfte, sie eine nach der anderen ticken ließ, bis meine Zeit um war; dafür, dass sie den Faden zwischen uns so lang und dünn werden ließen, dass sie es in dem Augenblick, als er für immer durchtrennt wurde, gar nicht gemerkt haben.
    Gleichzeitig weiß ich, dass es nicht wirklich ihre Schuld ist, zumindest nicht ganz. Ich habe auch meinen Teil dazu beigetragen. Ich habe es an Hunderten verschiedenen Tagen und auf Hunderte verschiedene Arten getan, und ich weiß es. Aber das macht die Wut nur noch schlimmer, nicht besser.
    Eltern sind schließlich dazu da, einen zu beschützen.
    Â»Mann, was ist los mit dir?« Lindsay sieht mich einen Augenblick scharf an. »Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden, oder was?«
    Â»Seit ein paar Tagen jetzt, ja.«
    Ich habe dieses gedämpfte Dämmerlicht echt satt, der Himmel ist von einem bleichen und kranken Blau – es ist noch nicht mal ein richtiges Blau – und die Sonne ein nasser Fleck am Horizont. Ich habe mal gelesen, dass Leute, die am Verhungern sind, anfangen, von Essen zu halluzinieren, sie liegen einfach da und träumen stundenlang von Kartoffelbrei und cremigen Butterklecksen und blutigen Steaks auf ihrem Teller. Jetzt kapier ich’s. Ich hungere nach einem anderen Licht, nacheiner anderen Sonne, einem anderen Himmel. Ich habe bisher nie genau darüber nachgedacht, aber es ist ein Wunder, wie viele verschiedene Arten Licht es auf der Welt gibt, wie viele Himmel: die blasse Helligkeit des Frühlings, wenn es aussieht, als würde die ganze Welt erröten; die intensive, leuchtende Kraft eines Julimittags; purpurrote Sturmhimmel und grüne Übelkeit kurz vor dem Blitzschlag; verrückte bunte Sonnenuntergänge, die aussehen wie ein Acid-Trip.
    Ich hätte sie intensiver genießen sollen, hätte sie mir alle merken sollen. Ich hätte an einem Tag mit einem wunderschönen Sonnenuntergang sterben sollen. Ich hätte in den Sommer- oder Weihnachtsferien sterben sollen. Ich hätte an irgendeinem anderen Tag sterben sollen. Mit an die Fensterscheibe gelehnter Stirn stelle ich mir vor, wie meine Faust das Glas durchschlägt bis hinauf in den Himmel und ich dabei zusehe, wie er wie ein Spiegel zerschellt.
    Ich denke darüber nach, was ich tun kann, um die Millionen und Abermillionen Tage zu überleben, die genau gleich sein werden wie dieser, zwei gegenüberliegende Spiegel, die das Spiegelbild bis ins Unendliche vervielfältigen. Ich mache einen Plan: Ich werde nicht mehr zur Schule gehen und ein Auto klauen und jeden Tag so schnell ich kann in eine andere Richtung fahren. Osten, Westen, Norden, Süden. Ich stelle mir vor, dass ich so weit und so schnell fahre, bis ich wie ein Flugzeug abhebe und direkt nach oben rase, hin zu einem Ort, an dem die Zeit verschwindet wie Sand, der vom Wind verweht wird.
    Wisst ihr noch, was ich über die Hoffnung gesagt habe?
    Â»Fröhlicher Valentinstag!«, trällert Elody, als sie in den Panzer steigt.
    Lindsay sieht

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