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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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fünf Sekunden ansieht, aber heute zwinge ich mich, seinen Blick zu erwidern. Wärme breitet sich in meinem ganzen Körper aus; es erinnert mich daran, wie ich immer bei meiner Großmutter unter der Wärmelampe gestanden habe, als ich gerade mal fünf war. Es ist unglaublich, dass Augen das können, dass sie Licht in Hitze verwandeln können. Mit Rob habe ich mich nie so gefühlt.
    Â»Wer hat, der hat«, sage ich und lasse meine Stimme sanft und fest klingen. Ich sehe etwas in seinen Augen aufblitzen. Ich habe ihn überrascht.
    Â»Vermutlich«, murmelt er so leise, dass ich sicher bin, es hört außer mir niemand. Dann wird er knallrot, als könnte er nicht glauben, was er da tut. Er macht eine Kopfbewegung auf meinen Tisch hin, auf dem außer einem Stift und dem kleinen quadratischen Notizblock, den Lindsay und ich uns zwischen den Stunden hin- und herreichen, um uns gegenseitig Nachrichten zu schreiben, nichts liegt. »Keine Rosen heute? Oder ist dein Strauß zu schwer geworden, um ihn mit sich rumzutragen?«
    Ich war bisher noch in keiner Stunde und habe deshalb keine Valogramme eingesammelt. Es ist mir völlig egal. Früher wäre ich liebergestorben, als am Valentinstag ohne eine einzige Rose in den Gängen der Schule gesehen zu werden. Früher hätte ich dieses Schicksal schlimmer gefunden als den Tod.
    Das war natürlich, bevor ich wusste, wie das ist.
    Ich werfe den Kopf zurück, zucke mit den Achseln. »Ich hab das irgendwie hinter mir gelassen.« Es ist, als durchströmte mich Selbstsicherheit, die von jemand anders stammt, einer Älteren und Hübschen, als würde ich nur eine Rolle spielen.
    Er lächelt mich an und ich sehe erneut etwas, das sich in seinem Blick bewegt. Dann geht er zurück zu seinem Pult, klatscht in die Hände und fordert mit einer Geste alle auf, sich hinzusetzen. Wie immer blitzt die schmuddelige Hanfkette unter seinem Kragen hervor und ich denke darüber nach, wie ich meine Finger hindurchschlinge, ihn an mich ziehe und küsse. Seine Lippen sind dick – aber nicht zu dick – und haben genau die Form, die ein Männermund haben sollte, so dass der eigene Mund exakt daraufpasst, wenn er die Lippen öffnet. Ich denke an das Bild aus seinem Highschool-Jahrbuch, auf dem er mit dem Arm um seine Abschlussballpartnerin dasteht. Sie war schlank, hatte lange braune Haare und ein gerades Lächeln. Wie ich.
    Â»Also dann, Leute«, sagt er, während alle zu ihren Plätzen schlurfen und sich kichernd und mit raschelnden Blumensträußen hinsetzen. »Ich weiß, dass Valentinstag ist und Liebe in der Luft liegt, aber wisst ihr was? Ableitungen auch.«
    Ein paar Leute stöhnen. Kent kommt fast zu spät durch die Tür gestürzt, seine Tasche ist offen und er verstreut Papiere hinter sich, als wäre er Hänsel oder Gretel und müsse sicherstellen, dass jemand seiner Spur aus halb fertigen Zeichnungen und Aufschrieben zum Matheunterricht folgen kann. Seine schwarz-weiß karierten Turnschuhe blitzen unter seiner übergroßen Kakihose hervor.
    Â»Entschuldigung«, murmelt er Mr Daimler atemlos zu. »Notfall beim Kummer . Druckerprobleme. Bösartiger Tumor in Papierzufuhr 2. Musste umgehend operieren, sonst hätte er nicht überlebt.« Als er die Reihe zu seinem Platz halb entlanggegangen ist, fällt sein Mathebuch – das auf einer Welle aus zerknülltem Papier in seiner offenen Tasche immer höher und höher geritten ist – heraus und klatscht auf den Boden, was alle zum Lachen bringt. Plötzlich steigt Ärger in mir auf. Warum ist er immer so chaotisch? Ist es so schwer, eine Tasche zuzumachen?
    Er sieht, dass ich ihn angucke, und missversteht meinen Gesichtsausdruck vermutlich als Mitgefühl, denn er grinst mich an und sagt lautlos: Wandelnde Katastrophe. Als wäre er sogar noch stolz darauf.  
    Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Mr Daimler. Er steht mit verschränkten Armen vor der Klasse, einen gespielt ernsten Ausdruck im Gesicht. Das ist noch etwas, das ich an ihm mag: Er ist nie wirklich böse.
    Â»Ich freue mich, dass der Drucker durchgekommen ist«, sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. Er hat die Ärmel hochgekrempelt und seine Arme sind sonnengebräunt. Oder vielleicht ist das auch seine normale Hautfarbe; wie karamellisierter Honig. »Wie gesagt, ich weiß, am Valentinstag seid ihr immer

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