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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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ich anfing, über »Vorbildfunktion« zu schwadronieren und über »meine hochgradige Beeinflussbarkeit« – ich liebe diesen Ausdruck; als hätten alle unter einundzwanzig den Verstand von Zahngips – und »die Verantwortung der Verwaltung, mit gutem Beispiel voranzugehen«, vor allem, als ich sie an Seite neunundsechzig der Schulordnung erinnerte: Den Schülern ist es verboten, anstößige oder sexuell unangemessene Handlungen auf dem Schulgelände oder in dessen Nähe zu vollziehen. (Diese Regel kenne ich, weil die Seite ungefähr tausend Mal rausgerissen und in verschiedenen Klos in der Schule aufgehängt wurde, die Ränder verziert mit Zeichnungen eindeutig anstößiger oder sexuell unangemessener Natur. Die Verwaltung hat das allerdings auch herausgefordert. Wer setzt eine solche Regel schon auf Seite neunundsechzig?)
    Zumindest haben mich die anderthalb Stunden mit Ms Winters ausgenüchtert. Es hat gerade zum Schulschluss geläutet und überall um mich herum strömen Schüler aus Klassenzimmern und machen deutlich mehr Krach als nötig – Geschrei, Gelächter, zuknallende Schließfächer, herunterfallende Ordner, Geschubse – ein nervöser, gedankenloser, rastloser Lärm, wie er nur an Freitagnachmittagen vorkommt. Ich fühle mich gut und mächtig und ich denke: Ich muss Lindsay finden. Sie wird es nicht glauben. Sie wird sich totlachen. Dann wird sie mir den Arm um die Schulter legen und sagen: »Du bist ein Rockstar, Samantha Kingston«, und alles wird wieder in Ordnung sein. Ich halte auch nach Katie Carjullo Ausschau – während ich bei Ms Winters im Büro saß, ist mir aufgefallen, dass wir die Schuhe nicht zurückgetauscht haben. Ich trage immer noch ihre schwarzen Monsterstiefel.
    Schwungvoll verlasse ich das Hauptgebäude. Die Kälte bringt meine Augen zum Tränen und ein stechender Schmerz schießt mirdurch die Brust. Februar ist echt der schlimmste Monat. Neben der Schulmensa steht ein halbes Dutzend Busse mit spotzenden und stotternden Motoren in einer Reihe hintereinander und lässt eine dichte schwarze Wand aus Abgasen aufsteigen. Durch die verdreckten Scheiben sieht man die blassen Gesichter einer Handvoll Schüler aus den unteren Klassen – die sich alle in ihre Sitze pressen und hoffen, nicht gesehen zu werden. Konturlos und austauschbar, spitze weiße Flecken mit riesigen traurigen Augen wie etwas aus einem Cartoon oder einem Albtraum. Ich überquere den Lehrerparkplatz in Richtung Zwölftklässlergasse, aber ich bin erst halb da, als ich einen silbernen Range Rover mit breitem Hinterteil – dessen Karosserie von den Bässen aus »No More Drama« vibriert – aus der Gasse biegen und zum oberen Parkdeck rasen sehe. Ich bleibe stehen und das ganze gute summende Gefühl strömt schnell und auf einmal aus mir heraus. Natürlich habe ich nicht wirklich damit gerechnet, dass Lindsay auf mich warten würde, aber tief in meinem Inneren habe ich wahrscheinlich darauf gehofft. Dann wird mir schlagartig bewusst, dass ich keine Mitfahrgelegenheit habe und nirgendwohin kann. Der letzte Ort, wo ich jetzt hinwill, ist nach Hause. Obwohl mir eiskalt ist, spüre ich kribbelnde Hitze aus meinen Fingern aufsteigen und meinen Rücken hinaufklettern.
    Es ist echt komisch. Ich bin beliebt – total beliebt –, aber ich habe gar nicht besonders viele Freunde. Noch komischer ist, dass mir das jetzt zum ersten Mal auffällt.
    Â»Sam!«
    Ich drehe mich um und sehe Tara Flute, Bethany Harps und Courtney Walker auf mich zukommen. Sie glucken immer zusammen und obwohl wir irgendwie mit allen von ihnen befreundet sind, nennt Lindsay sie die Pinscher: Ständig in Pink ist scheiße.
    Â»Was machst du hier?« Tara hat immer ein Dauerlächeln im Gesicht, als wäre sie bei einem Casting für Zahnpastareklame, und damit bedenkt sie jetzt mich. »Es sind ungefähr tausend Grad unter null.«
    Ich werfe meine Haare über eine Schulter und versuche gleichgültig auszusehen. Das Letzte, was die Pinscher erfahren müssen, ist, dass man mich sitzengelassen hat. »Ich wollte Lindsay noch was sagen.« Ich mache eine unbestimmte Geste in Richtung Zwölftklässlergasse. »Sie und die anderen beiden mussten ohne mich los – irgend so ein gemeinnütziges Ehrenamt, das sie einmal im Monat haben.

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