Wenn du wiederkommst
Sie sind mir so fremd, als wäre ich gerade erst in diesem Land angekommen, und ich ahne jetzt schon, daß nach der Trauerwoche mein Adreßbuch voller unbrauchbarer Namen sein wird.
Ruth, eine energische kleine Frau in meinem Alter mit erwachsenen Kindern, die ich aus der Zeit kenne, in der wir
regelmäßig die Schabbat-Gottesdienste ihrer reformierten Gemeinde besuchten, ist die letzte, die sich spät am Abend verabschiedet. Sie bleibt lange vor mir stehen und sieht mich mit besorgtem Lächeln an, während sich das Wohnzimmer leert und Menschen, die sich kaum kennen, angedeutete Küsse aneinander vorbeihauchen. Ich kann euch doch nicht allein hier zurücklassen, sagt sie.
Doch, doch, sage ich schnell und denke, bitte geht endlich, damit ich zu mir selber zurückkehren kann, zu uns, auch wenn Jerome nicht da ist, vielleicht kann ich ihn spüren, wenn es hier wieder still wird. Es ist, als wäre mein Immunsystem, das mich vor allzu großer menschlicher Nähe schützt, zusammengebrochen.
Dann sind nur noch wir beide im Haus, Ilana und ich. Sie hat sich für die Trauerwoche in ihrem Zimmer eingerichtet. Wir sitzen noch eine Weile inmitten der Überreste des Gelages, stellen die Teller und Schüsseln zusammen und bleiben verwirrt mitten im Zimmer stehen. Ununterbrochen gehen die Zusammenhänge zwischen den Handlungsabläufen verloren. Die Dinge sind sperrig und weigern sich, ihre Bedeutung preiszugeben, wir wissen nicht mehr, wo sie hingehören.
Es ist am besten, wir gehen ins Bett, schlage ich vor.
Du siehst schlecht aus, sagt Ilana. War es ein sehr schlimmer Tag für dich?
Ich glaube schon, aber ich kann im Augenblick nicht klar denken, erwidere ich. Ich fürchte mich vor der Trauerwoche, ich fürchte mich vor diesen Menschen, sie sehen einen Eindringling in mir, eine, die sich als Witwe aufspielt und nicht einmal ein Recht hat, hier zu sein und um ihn zu trauern.
Du wirst die meisten von ihnen nach der Schiwa-Woche nie mehr wiedersehen, sagt sie, du mußt dich nur hüten, ihre
Meinung in dich eindringen zu lassen. Sie sind auf eine andere Art und Weise vom Tod überfordert als wir, laß sie in Ruhe, spiel die Dame, ich weiß, das fällt dir schwer.
Sie war schon als Kind vernünftiger und pragmatischer gewesen, als es mir jemals gelingen wird. Ich hatte mich immer gewundert, wie leicht sie sich abfand, wenn sie etwas nicht bekommen konnte. Dann eben ein anderes Spielzeug, ein anderes Vergnügen, ein anderer Weg, der sich oft als der bessere herausstellte. Es war leicht gewesen, sie zu erziehen, sie war fast wie von selber groß geworden, und sie hatte früh begonnen, die Schwächen ihrer Eltern mit Nachsicht zu betrachten. Habt ihr beide gerade eine Midlifekrise? hatte sie gefragt, als wir uns trennten. Damals war sie siebzehn und hatte eben die Highschool abgeschlossen. Sie war ein kluges Mädchen, das Geselligkeit liebte, ihrer Herzlichkeit und ihrem Lächeln mit den Wangengrübchen konnte niemand widerstehen. Das Schauspielertalent ihres Vaters, dem immer auch ein wenig Geltungssucht beigemischt war, die Erwartung, dafür geliebt zu werden, hat bei ihr eine andere Richtung eingeschlagen. Sie muß nicht als Star im Mittelpunkt stehen, aber sie sehnt sich nach Leichtigkeit und Harmonie, und wie sie zu ihrer Freude herausfand, besitzt sie die Gabe, die Menschen zu bezaubern. Trotzdem hat sie, wie Jerome, eine verborgene, dunkle Seite, die Einsamkeit braucht und Phasen scheinbar grundloser Traurigkeit mit sich bringt. In solchen Zeiten zieht sie sich zurück. Das Lernen war ihr immer leichtgefallen, sie hatte unter mehreren Eliteuniversitäten wählen können und sich für Yale entschieden und dort Theaterwissenschaft, Regie und danach vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Jerome hatte keine Kosten gescheut, um ihr die beste Ausbildung zu bezahlen, aber für die großen Erfolge war sie nie
ehrgeizig genug gewesen, denn sie erwartet vom Leben vor allem, daß sie sich nicht langweilt und daß sie am Ende jeden Tages eine wichtige Erfahrung gemacht hat. Mit ihren einunddreißig Jahren hat sie schon einige Jobs aufgegeben, an denen andere mit allen Kräften festgehalten hätten, sie hat eine ihren Eltern unbekannte Dunkelziffer von Beziehungen gehabt und wieder aufgelöst, nicht nur mit Peter, den wir mochten, sondern auch mit Männern, deren Erscheinung und Ansichten uns mit Besorgnis erfüllt hatten. Jerome ertrug es nicht, wenn jemand sein Kind nicht wie eine Göttin verehrte. Jeromes Tochter braucht
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