Wenn du wiederkommst
einen Weg, sich ihm zu nähern, der nicht von den Geschichten über den Tod verstellt ist?
Bis zum Morgengrauen gehen wir auf dem winzigen Quadrat von zwei Stunden Agonie im Kreis, um etwas zu begreifen,
was nicht zu begreifen ist: wie er das Geschäft betritt, wie er etwas sagt, das die Leute zum Lachen bringt, die Augen schließt, und dann die Dunkelheit. Noch wissen wir nicht die genaue Uhrzeit, die in der Todesurkunde stehen wird, aber wir können uns nicht von dieser Szene lösen, als gäbe es irgendwo in der unerbittlichen Aufeinanderfolge von Sekunden die eine, an der man den Tod zur Umkehr hätte zwingen können. Wo war er, das, was ihn ausmachte, unabhängig von seinen Körperfunktionen, zwischen dem Moment, in dem er die Augen schloß und bewußtlos wurde, die Sanitäter ihn in den Krankenwagen schoben, die Arzte zwei Stunden lang versuchten, ihn wiederzubeleben - und dem Eintritt des Todes? Und auch danach noch, sagt Ilana, als ich sein Gesicht küßte.
Wir holen aus, gehen an den Anfang des Tages zurück, als der Wecker läutete, als er duschte, sich anzog, frühstückte, ins Auto stieg und nach Brookline fuhr, mit einem Umweg zu Charyl Ann’s, der Bäckerei, in der es die beste Challah mit Rosinen in ganz Boston gibt, denn Ilana kam meistens zum Schabbat Dinner nach Hause, und weiter, als er an Allisons Wohnungstür läutete und ungeduldig wurde, weil sie einen Schlüssel nicht finden konnte, da blieben ihm noch vier Stunden Leben. Ein schöner Tod, hörten wir im Lauf des Nachmittags von unseren Gästen, als müßten wir uns dadurch getröstet fühlen. Ein schöner Tod ist in den Augen der Menschen offenbar einer, den man nicht ahnt, wenn er schon über einem steht, ein aus dem Hinterhalt gezielt geführter Schlag, so präzis, daß dem Opfer keine Zeit mehr für den Gedanken bleibt: Jetzt ist es zu Ende.
Jedes Tier spürt seinen herannahendem Tod, und er hat nichts davon gewußt, sagt Ilana.
Das glaube ich nicht, widerspreche ich. Im nachhinein
kommt es mir so vor, als wäre er in den letzten Wochen anders als früher gewesen, es war nicht deutlich und konkret genug, um ihn danach zu fragen, aber da war eine leise, resignierte Trauer, etwas wie Bedauern, vielleicht eine Ahnung, die der Tod vorausschickte, eine tiefe Müdigkeit, die ich auf den Fotos des letzten Jahres erkenne. Aber ich kann seine Veränderung noch nicht genau benennen, außer daß er geduldiger geworden war und genauer zuhörte. Wir redeten manchmal über die unversöhnten Kränkungen von früher, und er wehrte meine Versuche, unsere Zerwürfnisse und Unversöhnlichkeiten zu deuten, vielleicht durch Erklärungen zu bereinigen, nicht mehr ironisch oder zornig ab, er hörte zu und sagte leise: Das habe ich nicht gewußt, so habe ich es noch nie gesehen. Öfter als früher fragte er, wenn ich mit den Gedanken woanders war: Bist du wütend auf mich? Kleinigkeiten, aber sie waren neu.
Der letzte Pessach-Seder, sage ich, erinnerst du dich? Es war unser schönster. Wir waren nur zu dritt.
Er leitete den Seder auf Englisch, und Ilana las den hebräischen Text. Er übersprang nichts und machte keine Späße, er war mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf den Augenblick konzentriert, und nicht wie früher, wie sein ganzes Leben lang, mit seiner Sehnsucht woanders. Als habe er begriffen, daß das Glück da sein konnte, wo er war, und daß er nur ein wenig stillhalten mußte. Vielleicht war das der Anfang von ein bißchen Weisheit. Der Seder war auf einen Donnerstag gefallen, und am Wochenende fuhren wir zum erstenmal nach dem Winter nach Cape Cod, um die Sturmschäden an dem Haus, von dem uns ein Viertel gehörte, zu begutachten. Ich entriegelte die Fensterläden, lüftete die Räume, versuchte das Fliegengitter vor der Verandatür zurechtzubiegen, das der Sturm zerbeult
hatte, während Jerome erschöpft auf den Hausstufen saß und sich von dem kurzen Weg über den Strand erholte. Wir hatten umkehren müssen, er war oft stehengeblieben, um nach Atem zu ringen. Es ist die Lungenentzündung vom Winter, sagte er und sah mich wie um Vergebung bittend an, ich weiß, wie gern du am Strand spazierengehst, aber ich werde alt, meine Liebe, es geht gegen Ne’ila. Das Schlußgebet am Versöhnungstag war ihm eingefallen, das die ganze Ambivalenz des Endes eines langen Fasttages enthält, die Erleichterung und die Angst, daß es bald zu spät und das Buch des Lebens endgültig zugeklappt sein wird.
Wir reden Stunde um Stunde im Kreis, zwingen unsere
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