Wenn du wiederkommst
sich das nicht gefallen lassen, hämmerte er ihr ein, zornig über seine Ohnmacht, wenn sie mit unglücklichem Gesicht herumschlich und auf den Anruf irgendeines unwürdigen Jünglings wartete. Schade, daß man sich nicht mehr duellieren darf, rief er, wenn einer sie gekränkt hatte. Er ist nicht wert, dir die Schuhe zu binden, war sein abschließendes Urteil über alle, die sie uns vorstellte, alle außer Peter. Vielleicht hatte sie Peter nur gewählt, damit ihr Vater einmal etwas Gutes über einen ihrer Freunde zu sagen hatte. Sie ist das Wertvollste, das er zurückgelassen hat. Auf einmal ist sie in meiner Wahrnehmung nicht mehr ein eigenständiger Mensch, erwachsen, unabhängig, und unter anderen Eigenschaften auch meine Tochter, sondern vor allem unser gemeinsames Kind, er und ich und unsere aus ganz Europa und dem vorderen Orient zusammengewürfelten Vorfahren, all ihre Eigenschaften und Charakterzüge in dieser jungen Frau vereint. Ich suche in jeder ihrer Gesten, in jedem Wort nach einem Echo von Jerome und nehme alles, was sie sagt, mit Zustimmung, beinah mit Ehrfurcht an. Wenn er sich mir mitteilt, dann am offensichtlichsten durch unser Kind. Die Vorstellung, daß wir durch einen Liebesakt der Welt einen
Menschen hinzugefügt haben, erscheint mir überwältigend, ebenso unfaßbar wie die Welt wieder verlassen zu müssen und nur einen Bruchteil von dem gesehen und erfahren zu haben, was sie enthält.
Hat er sich von dir auch nicht verabschiedet? fragt sie unvermittelt.
Aber er hat es doch nicht ahnen können, wende ich ein.
Ich meine nicht vorher, sondern - sie zögert, sucht nach Worten - im Augenblick des Todes.
Ich weiß genau, wovon sie spricht, auch ich habe denselben Gedanken gehabt und ihn als Aberglauben weggeschoben, aber er ist hartnäckig und läßt sich nicht verdrängen, weil ich zu viele Geschichten von Menschen gehört habe, die über große Entfernungen hinweg spürten, es einfach wußten, wenn jemand starb, mit dem sie eng verbunden waren.
Nein, sage ich, als er starb, war es bei mir ungefähr halb neun Uhr abends, ich war bei einer Freundin zu Besuch, wir hatten gegessen, die Teller standen noch auf dem Tisch, und wir redeten über Beziehungen und Treue. Ich erinnere mich noch sehr genau an dieses Gespräch. Ich behauptete, Liebe hinge zwar nicht davon ab, ob der andere treu sei, aber es hinge von gegenseitiger Treue ab, ob es eine schmerzliche oder eine glückliche Liebe sei.
Dann hast du in der Sekunde seines Todes also doch über euch beide geredet, sagt Ilana, und ich habe nicht einmal entfernt an ihn gedacht, es war ein Tag wie jeder andere, bis Leslie anrief, da kam ich gerade von der Mittagspause ins Institut zurück und sagte zur Sekretärin, es sei viel zu heiß für Anfang Mai. Und als der nächste Regen kam, war er nicht mehr am Leben, sagt sie leise.
Wie ich streckt sie Hände und Verstand aus nach einer letzten
Verbindung, und sei sie noch so ungreifbar, um die Endgültigkeit ein wenig erträglicher zu machen, um mit irgendeinem Trick an die Rückseite der Mauer zu gelangen, die der Tod ist. Wir können nicht aufhören, uns die letzten Minuten seines Lebens vorzustellen, immer wieder kreisen wir um den Augenblick im Münzengeschäft, als er die Augen schloß. Was dachte er, an wen dachte er?
Sein letzter Gedanke, wenn es ihn gab, warst ganz sicher du, tröste ich sie, niemanden hat er mehr geliebt als dich.
Aber wann ist der letzte Gedanke? beharrt Ilana, was bedeutet es, wenn sie sagen, das Auge bricht? Das Auge bricht nicht, die Pupillen weiten sich, sie werden starr und schwarz, weil sie auf Licht nicht mehr reagieren. Ist das der Augenblick des Todes? Und was geschieht mit der Seele? Oder war er am Ende nur mehr ein in Aufruhr geratener Organismus, in dem es vor Kurzschlüssen zuckte und blitzte? Verlischt auch die Seele mit dem letzten Atemzug, wenn die Kurve auf den Monitoren flach wird und in einer waagrechten Linie ausläuft, wenn das Herz stillsteht, wenn alle Geräte ausgeschaltet werden und die Ärzte vom Bett zurücktreten? Als er da lag, bis zum Kinn zugedeckt, bereits erkaltend, und ich an seinem Bett stand und das Sch’ma Jisrael für ihn sagte, hätte ich gern gerufen: Bist du noch da, wo bist du? Schwebte da der letzte Rest seines Bewußtseins im Raum, über seinem Körper, und schaute auf mich herunter? Oder sind das nur kollektive Bilder, die für Erfahrungen bereitstehen, für die wir keine Worte haben? Gibt es überhaupt einen Zugang zum Tod,
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