Wenn du wiederkommst
und unsere Gesichter sich in der großen Fensterwand zum Fluß hin spiegeln, haben Ilanas Züge sich allmählich verändert, und etwas bisher unsichtbar Gebliebenes tritt hervor, etwas, das mich überrascht und erschreckt, als betrachte ich sie auf einem alten braunstichigen
Foto, wie sie vielleicht in dreißig, vierzig Jahren aussehen wird. Eine schmale Frau mit feinen, ein wenig mürben Zügen, mit tiefen Schatten um die Augen und schweren, müden Lidern, vom Leben mit Erfahrungen gezeichnet, die sie noch nicht gemacht hat. Wir sind beide erschöpft und müde und gleichzeitig kommt es mir vor, als sei mein Kopf aus dünnem Glas und könnte bei der geringsten Erschütterung zerspringen. Draußen, über dem Charles River, kann man bereits die Grauschattierungen der frühen Morgendämmerung erahnen, als wir zu Bett gehen. Von meinem provisorisch hergerichteten Lager im Arbeitszimmer sehe ich Nebelschleier über dem Fluß wie Dampf aus einem Bad aufsteigen, ich sehe die verwaschenen Umrisse der Uferbüsche aus der Dunkelheit hervortreten, aber dann muß ich doch eingeschlafen sein, denn ich wache von der Erinnerung an das Klingeln des Telefons auf.
Ab Mittag, hieß es, seien jederzeit Gäste zu erwarten, und es gibt keine Möglichkeit, mich zu verkriechen und so zu tun, als wäre ich nicht da, einen Zettel an die Tür zu heften, ich sei ausgegangen. Es ist meine Pflicht, in der Schiwa-Woche zu Hause zu sein und alle zu empfangen, die kommen, um uns zu trösten. Schiwa ist Open House, und die Gäste poltern herein, ohne vorher anzurufen, sie lassen sich nieder, und wir servieren Tag für Tag Lachs, Reis, Ananasscheiben und Petit Fours. Es gelingt mir weder zu essen noch für uns zu kochen, es ist, als hätte ich vergessen, was es mit Nahrung auf sich hat. Aber die Menschen bringen eine robuste, laute Welt auf unsere Todesinsel, sie lachen, rufen durcheinander, unterhalten sich über
die jüngsten Baseballspiele, ereifern sich für die Red Sox oder die New England Patriots, ihr Gelächter und Geschnatter ist mir unerträglich. Ich sitze unter ihnen wie ein Gespenst, nicht unfreundlich, nur außerhalb der Gesellschaft der Lebenden, von ihrer Lebensenergie abgeschnitten, das Gerede rauscht an mir vorbei. Wie weit ich mich von ihnen entfernt habe und wie fest der Tod mich im Griff hat, kann ich daraus ermessen, daß mir das Leben eine unzumutbare Last geworden ist, die ich widerwillig hinter mir herschleife. Wenn ich aufstehe, kommt es mir vor, als würde ein eisglatter Boden unter meinen Füßen weggezogen. Ich fange Emilys mißtrauischen Blick auf, die argwöhnt, ich sei betrunken.
Die meisten Besucher bleiben nicht lang, für sie ist es ein gewöhnlicher Wochentag, in den sie auch noch diesen Kondolenzbesuch einplanen mußten, sie sind auf einen Sprung vorbeigekommen, wie sie sagen, und ebenso unvermittelt stehen sie mit einem Blick auf die Uhr plötzlich auf, entschuldigen sich, sie müßten leider weiter. Andere lösen sie ab, schauen auf ihrer Runde sozialer Verpflichtungen kurz vorbei, fragen, wie’s so geht, warten auf keine Antwort, wie sollte es schon gehen, den Umständen entsprechend, gut, sagt meine Tochter und lächelt tapfer. In ihren Augen sehe ich ein seltsames Irrlichtern, eine Unfähigkeit sich in der Wirklichkeit, die uns umgibt, zurechtzufinden. Die wenigsten Menschen, die im Lauf der Woche für eine Stunde oder zwei in unserem Wohnzimmer sitzen, hatten jemals zuvor unser Haus betreten. Jerome traf seine Kollegen zu Arbeitsessen auswärts, jeden Freitag hatte er seine Herrenrunde mit Herb, Leslie und einem oder zwei weiteren Freunden im Laurel in Downtown Boston an dem für sie reservierten Tisch. Und auch wir wurden nur zu solchen Parties in andere Häuser eingeladen, bei
denen sich die Gäste in den kleinen Räumen und engen Fluren drängten und man sich selber vorstellen mußte, sich auf einem Pappteller in der Küche etwas zu essen holte und mit irgend jemandem, den man später bei einer anderen Party wiedersah, in ein unverbindliches Gespräch kam. Auch unsere Schiwa ist ein solcher Anlaß zur Geselligkeit für sie, eine Bekanntschaft aufzufrischen, sich Neuigkeiten zu berichten, Telefonnummern auszutauschen, ein Wiedersehen anderswo zu planen. Je mehr sie reden, desto unvorstellbarer wird es, mich an ihren Gesprächen zu beteiligen. Das ist der falsche Zeitpunkt, möchte ich anfangs erklären, ich habe mich noch nicht genug gefaßt, um zwanglos und liebenswürdig mit euch zu plaudern, aber die
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