Wenn du wiederkommst
Ilana.
Gladys taucht unerwartet auf, meine beste Freundin, als unsere Töchter klein waren. Ich habe das Bild eines heißen Frühlingstags in Cambridge deutlich in Erinnerung. Ich holte Gladys von der Widener Bibliothek ab, sie hatte gehofft, ihre Dissertation vor der Geburt des Kindes abzuschließen. Nach einem langen, schneereichen Winter blühte damals alles gleichzeitig im Harvard Yard, der Flieder, die japanischen Zierkirschen, die Magnolienbäume und die Glyzinien an den Hauswänden, es war ein solcher Tumult von Farben und Düften, eine solche Üppigkeit, daß wir ganz berauscht durch Cambridge tanzten, zwei junge hochschwangere Frauen in weiten bestickten Hippiekleidern. Ein Bild, so unwirklich wie aus einem alten Film. Ich frage sie nach ihrer Tochter, wir tauschen ein paar Erinnerungen aus, dann sagt sie plötzlich mit unerwarteter Härte: Ich hoffe, du findest bald aus deiner Erstarrung heraus.
Ich bin nicht erstarrt, sage ich, laß mich doch um Jerome trauern, er ist noch nicht einmal eine Woche tot.
Es wäre an der Zeit, daß du dich von ihm löst, sagt Louise, das hättest du schon vor einem Jahrzehnt tun sollen, dann hättet ihr beide eine Chance zu einem neuen Leben gehabt. Aber vielleicht findest du jetzt, wo er tot ist, neues Glück, ich wünsche es dir jedenfalls. Ilana wirft mir einen warnenden Blick zu, und ich belasse es dabei, Louise so lange anzusehen, bis sie wegschaut.
Louise kommt fast jeden Nachmittag, wartet, bis sich genügend Publikum versammelt hat, und erzählt ihre Version von Jeromes Tod immer von neuem, sie wiederholt, daß man sie als nächste Angehörige gewürdigt habe, daß Jerome mich nur aus einer Schwäche, einem trägen Beharren heraus ertrug, daß er mich benützte, um andere Frauen auf Armeslänge zu halten. Sie redet von mir, als säße ich gar nicht da, his ex-wife, sagt sie zu den anderen. Dazu muß man wissen, erklärt sie, daß er mit Intimität Probleme hatte.
Wir hatten keine Probleme mit Intimität, sage ich, er war ein warmherziger, fürsorglicher Mann, und es war immer Liebe zwischen uns. Ich rede gegen ihre Behauptungen an wie in einem Alptraum, in dem man ruft und niemand kann es hören.
Halten Sie Ihren Mund, Sie wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden, sage ich schließlich zu irgendeinem Unbekannten, der mir mit salbungsvoller Stimme von Herzen wünscht, daß auch in meine Seele bald wieder Friede einkehren möge. Ich hatte befürchtet, daß ich irgendwann in der Schiwa-Woche die Beherrschung verlieren würde, nicht in den ersten Stunden, und nicht gleich am ersten Tag, aber die Tage laufen ineinander, und jeden Nachmittag sitzen sie auf unseren Stühlen und unserem Sofa, holen sich in der Küche Kaffee und Mineralwasser, jeden Abend sitzen sie an unserem Tisch und ich kann ihre Reden nicht mehr hören, die Freunde, die ich kaum
oder gar nicht kenne, die Verwandten, die mich ignorieren, der Schwager, der sich dagegen verwahrt, daß ich ihn meinen Schwager nenne, Louise, die sich als Witwe feiern läßt, Leslie, der verleumderische Anekdoten über Jerome erzählt, und irgendwann fange ich an, die unerträgliche Wahrheit einzuklagen, daß der Tod ein Schlächter ist, und daß sie mit ihren selbstgefälligen Phrasen, ihrem Beharren auf Normalität, den Schmerz, den er uns zugefügt hat, noch verstärken. Es ist, als sei ein Tier aus der Wildnis in mich gefahren, ein Wesen, das man zu lange ausgesperrt hat und das nun einbricht in die Wohnungen der Menschen und Furcht und Empörung hervorruft. Ich will sie den gleichen Schmerz spüren lassen, der mir in manchen Momenten beinahe das Bewußtsein raubt. Warum ist Trauer so schwer mitzuteilen? Wäre ich vor körperlichen Schmerzen außer mir, hätten sie Verständnis, aber vor der unerträglichen Sehnsucht, die mir die Tränen in die Augen treibt und mich zu heftigen Antworten hinreißt, weichen sie zurück, als sei ich verrückt geworden. Ich möchte, daß sie die Ungeheuerlichkeit, die mitten unter uns geschehen ist, endlich begreifen. Vielleicht ist diese wilde Trauer eine Art Wahnsinn, vielleicht kann man der Brutalität des Todes nicht anders begegnen, wo er doch vor meinen Augen mein halbes Leben verschlungen hat. Ich wache mißtrauisch und kampf bereit darüber, daß Jerome posthum Gerechtigkeit widerfährt und verteidige ihn gegen alle, die ihm etwas Ehrenrühriges anzudichten suchen oder es wagen ihn zu kritisieren, jetzt wo er sich nicht mehr wehren kann.
Einen Abend lang sitzt Jules Wharton in
Weitere Kostenlose Bücher