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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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Fremdheit wächst, und ich verliere allmählich jeden Sinn für die Regeln der Geselligkeit. Was ich auch sage, es klingt falsch, pathetisch oder larmoyant, ich sehe es in den peinlich berührten Gesichtern. In der Hierarchie der trauernden Familie verdiene ich keine Rücksichtnahme, und meine Trauer befremdet sie.
    Hast du nach der Scheidung nicht wieder geheiratet? fragt Leona, eine Cousine, die in Florida lebt und die ich zuletzt bei Grandma Idas Begräbnis vor dreißig Jahren gesehen habe. Damals war sie ein hübsches resolutes Mädchen, Jerome und sie konnten sich nicht ausstehen, er fand sie dumm und vorlaut und sie hielt ihn für überheblich, jetzt ist sie eine übergewichtige Matrone mit blondgefärbtem Haar, sie hat ein Catering Imperium in den Südstaaten aufgebaut, und man glaubt ihr sofort, wenn sie sagt, es sei zwar schwerer für eine Frau, sich in diesem Geschäft durchzusetzen, aber sie nehme es mit jedem auf.
    Nein, erwidere ich, wir sind zusammengeblieben, er war mein Lebenspartner. Im gleichen Moment ist mir der Ausdruck
peinlich, er klingt, als zitiere ich aus einem Ratgeber. Da war einfach zu viel Gemeinsames für eine endgültige Trennung, versuche ich es erneut.
    Als Leona nach Stunden aufbricht, drückt sie Ilana und mich fest an sich. Wenn ihr irgend etwas braucht, für die Familie tu ich alles, beteuert sie mit Tränen in den Augen.
    Mein Mann, sage ich, von Leonas Rührung ermutigt, später vor einer anderen Runde noch einmal, als von Jerome die Rede ist, aber diesmal werfen sie sich bedeutungsvolle Blicke zu, niemand widerspricht mir, und niemand glaubt mir. Ich sehe es an ihren undurchdringlichen Mienen, daß ich mir ein Recht anmaße, das mir nicht zusteht. Auch für die Trauer muß es Schicklichkeitsregeln geben.
    Erwähnt hat er dich aber nie, mit keinem Wort, sagt Emily mit einem metallischen Klang in der Stimme, der zu einer Zurechtweisung gepaßt hätte und wohl auch so gemeint ist.
    Und immer wieder, von jedem neuen Besucher, in jedem Gespräch, höre ich irgendwann den Satz, für den ich noch lange nicht bereit bin: Life must go on. Warum muß das Leben weitergehen, wie kann es weitergehen, nachdem es zerschlagen wurde? Es versetzt mich in Panik, wie schnell sie sich Jeromes zu entledigen versuchen, wie endgültig für sie sein Tod ist. Ich will von solcher Unabwendbarkeit nichts hören, denn hinter meinem eigenen Rücken hege ich immer noch die Hoffnung, daß er am Ende wiederkommt. Ihre Selbstgewißheit erbittert mich, ich betrachte sie, wie sie essen und trinken, wie sie lachen und sich über vieles andere, nur nicht über Jeromes Tod und unseren Verlust unterhalten. Alles führt von ihm weg, in ein Leben, an dem er nicht mehr teilhat. An dem auch ich nicht teilhaben will. Aber sogar wenn sie über ihn reden, entwerfen sie ein fremdes Bild von ihm, bei dessen Betrachtung
ich ihn verliere. Den Jerome, den ich liebte, scheint niemand gekannt zu haben.
    Er hatte ein erfülltes Leben und einen schönen Tod, hält jemand meiner Tochter vor, als Ilana gegen die Plötzlichkeit, mit der er mitten aus dem Leben gerissen wurde, aufbegehrt. Die Toten darf man nicht festhalten, das hindert sie daran, ihren Frieden zu finden, wird sie von einer Frau belehrt, die den Anschein erweckt, als sei sie in intimem Kontakt zu den Toten und wüßte alles über ihre Bedürfnisse.
    Ein Segen, daß er den Herzinfarkt nicht im Auto auf dem Highway hatte, bekommen wir mehrmals von Pragmatikern zu hören, die an allem etwas Segensreiches finden. Er hätte einen Unfall verursachen und den Tod anderer verschulden können.
    Und wenn er überhaupt nicht gestorben wäre? frage ich. Wenn er zum Beispiel an diesem Vormittag nicht nach Boston gefahren wäre? Wäre er dann noch am Leben?
    Jemand lacht laut auf: Was wäre, wenn meine Großmutter Räder hätte? Wäre sie dann ein Autobus? Sein Lachen wirkt auf die anderen ansteckend.
    Beth, zu deren Sylvesterparty wir letzten Winter eingeladen waren, wirft dem pietätlosen Gast einen strengen Blick zu. Es war ihm vorbestimmt, sagt sie. Jerome war neben ihr gesessen, er hatte Fieber und konnte sich kaum aufrecht halten, aber wir waren trotzdem eine Stunde lang auf vereisten Landstraßen zu dieser Einladung gefahren. Es war der Abend, an dem Leslie ihr seine Liebe gestehen wollte, und Beth benutzte Jeromes Nähe, um sich Leslie vom Leib zu halten. Auch Jerome war von ihr bezaubert, von ihrer Herzlichkeit und ihrer Schönheit. Es geht dir gar nicht gut, nicht wahr?

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