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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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hatte sie besorgt gefragt, du bist ja weiß wie ein Leichentuch. Mit ihrem schwarzen
Hütchen auf den blonden Locken sieht sie wie Julie Andrews aus.
    Die Stimmen und Gesichter verschwimmen mir im Lauf der Tage immer mehr, ich kann sie nicht mehr auseinanderhalten, die Ununterscheidbarkeit ihrer immer gleichen Ratschläge macht sie austauschbar. Man dürfe dem Tod keinen Platz im Leben einräumen, ermahnen sie uns, wir müßten uns jetzt auf die Zukunft konzentrieren, es sei nicht gut zurückzublicken, let the dead bury their dead. Ich kenne den Ausdruck aus dem Deutschen: Laß die Toten ihre Toten begraben, ein Bibelzitat, aber ich verstehe es nicht, habe es nie verstanden. Ihre eifrigen Anleitungen zum Vergessen bedrängen mich. Wie können wir uns von Jerome abwenden, wenn wir, Ilana und ich, noch nicht einmal begriffen haben, daß er tot ist? Ich warte vergeblich auf einen einfachen Satz wie: Es tut mir leid. Ich warte darauf, daß jemand kommt und sagt: Jerome hat dich geliebt. Daß jemand meine Hand hält und durch sein Schweigen seine Hilflosigkeit eingesteht. Aber für jede Lebenssituation gibt es eingelernte Verhaltensweisen und Redewendungen: Unfortunate, coincidence, too bad, how sad, he will always be with us, he passed away, he is in heaven, death is part of life, we will all die, time to move on, das sind die hilflosen Beschwörungsformeln gegen die Trauer. Alle anderen stehen mitten im Leben, und es erscheint ihnen genauso überwältigend wie uns der Tod, ich weiß es, und ich weiß, wie hilflos ich vor der Trauer anderer gestanden bin, früher, als mir die Erfahrung fehlte, aber das Wissen hilft mir nichts, denn gerade jetzt habe ich für das Leben der anderen keine Geduld.
    Always count your blessings, fordert mich eine ältere Dame ganz in Schwarz auf. Sie sei mit Jerome vor langer Zeit befreundet gewesen, sagt sie, und habe von seinem Tod in der Zeitung
gelesen. Sie habe schon unendlich viel Kummer ertragen müssen, damit stellt sie ihren Leidensvorsprung von Anfang an klar, und sie spricht langsam, betont jedes Wort und gibt mit dem Zeigefinger den Takt dazu an. Herzlose Ratschläge, um die wir nicht gebeten haben: Du mußt. Du sollst nicht. Warum kannst du nicht endlich. Time to move on. Tröste dich, auch Hiobs Freunde waren Nervensägen, würde Jerome jetzt sagen.
    Manchmal bleiben wir für ein, zwei Stunden allein zurück, weil ein Schwung Gäste gleichzeitig aufgebrochen ist. Wir sehen uns erleichtert an und atmen auf. Leg dich ein bißchen hin, schlägt Ilana vor. Aber wir sind beide erschöpft und überdreht, es ist, als müßten wir ein mörderisches Programm absolvieren und in den Pausen sitzen wir wie gelähmt und warten. Wir reden über die Besucher und erinnern uns an frühere Zeiten mit ihnen und mit Jerome, wir überlegen, wie er über sie dachte, ob er sie mochte, mit welchen witzig sarkastischen Bemerkungen er sie charakterisiert hätte. Ilana fordert mich auf, von Jeromes Cousine Leona zu erzählen, von Grandma Ida und ihrem Begräbnis. Ich erzähle von der weichen, mit hellblauer Wolle zusammengebundenen Babylocke, die ich zwischen alten Zahnbürsten und aufgerollter Zahnseide gefunden habe, und wie Grandma Ida ihrem Enkel Jerome zärtlich die Haare aus der Stirn strich, behutsam, während er sich mit geschlossenen Augen zu ihr hinunterneigte. Das war bei meinem ersten Besuch in ihrem Altersheim gewesen, Jerome und ich lebten erst seit ein paar Monaten zusammen. Mein kleiner Jerry, sagte sie mit ihrem starken jiddischen Akzent, so lange Locken hast du als Kind gehabt, weißt du noch, wenn ich sie dir nach dem Waschen ausfrisiert habe, Krähennester haben wir sie genannt. Kurz vor ihrem Tod besuchten wir sie im Spital, sie hatte einen Herzinfarkt gehabt und lag teilnahmslos
in ihrem Bett. Bleib hier und leiste ihr Gesellschaft, sagte Jerome, ich gehe einen Arzt suchen. Ich stand hilflos lächelnd an ihrem Bett, stand ebenso hilflos da wie unsere Besucher in den vergangenen Tagen, und wußte nicht, was ich sagen sollte.
    Wer bist du, fragte sie unwirsch.
    Ich bin Jeromes Frau, antwortete ich hoffnungsvoll.
    Ich möchte meine Familie um mich haben, keine Fremden.
    Ich bin schwanger, sagte ich, es ist Ihr Urenkel. Aber es erreichte sie nicht mehr, und weil sie sich nicht wegdrehen konnte, wandte sie den Kopf zur Seite und schloß die Augen. Die Verwandten meinten, Schwangere sollten nicht zu einem Begräbnis gehen, ich ging trotzdem. So warst du gewissermaßen auch dabei, sage ich zu

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