Wenn du wiederkommst
David nach der Untersuchung zu ihm aufblickte und mit einem Entsetzen in der Stimme, die dem Freund, aber nicht dem Arzt anstand, sagte, du wirst sterben, Jerome, und ich kann nichts für dich tun. Danach konsultierte er einen jungen Arzt, dem gegenüber er keine Schwäche zeigen wollte, mit dem er beiläufig scherzte und dem er seine Symptome und Ängste verschwieg.
Ilana ist erfreut über den plötzlichen gleichaltrigen Familienzuwachs, die junge Dichterin Caitlin, die Tänzerin Jill, den Journalisten Mike, sie machen gemeinsame Pläne bis in den Herbst. Aber ich erkenne in keinem von ihnen auch nur eine Spur von Jerome, ich spüre nur etwas von der Nestwärme einer Großfamilie, über die er sprach, wenn er von früher erzählte, die uns gefehlt hatte und mir nun nicht mehr gilt. Die Zuneigung ist nur ein kurzes Aufflackern von Bedauern auf beiden Seiten, sie wird vom Alltag schnell wieder zugedeckt werden.
Ich gehöre zu keinem Wir mehr, das sich ihnen anschließen könnte, und sie werden mir unvermittelt wieder fremd, wenn ich sie von Dingen erzählen höre, die ihr Leben betreffen, das ich nicht kenne, ihren Kindern und Enkelkindern, ihren Häusern und ihren Berufen.
Der erste Schabbat beendet die Woche des Schiwa-Sitzens. Danach bleiben die Gäste weg. Acht Tage nach seinem Tod haben die meisten Menschen, die ihn kannten, mit Jerome abgeschlossen. Life must go on. Manchmal sehe ich in den nächsten Wochen einen von ihnen auf der Straße oder im Supermarkt, aber es kommt zu keinem Gespräch, sie wechseln die Straßenseite oder sind in die Beschriftung einer Lebensmittelpackungvertieft. Vielleicht haben sie sich ja auch nur von meinem exzessiven Verhalten während der Trauerwoche abgewendet, ich werde es nie wissen. Leslie kommt manchmal ungeladen zum Abendessen, setzt sich zu Tisch, als sei es für Jeromes besten Freund selbstverständlich, daß er nun bei Tisch seinen Platz einnimmt. Er erzählt von seinen Eroberungen bei jungen Frauen, von all dem Lob und Dank, mit dem seine Klienten ihn überhäufen, und davon, was er seine spirituelle Biographie nennt, bis er, von Jeromes Wein ermüdet, abrupt aufbricht.
IV
Scheloschim - Dreißig Tage
Am Schabbat abend kommen Suzanne und Rachel, Mutter und Tochter, die schon vor Jeromes Tod viele Sylvesterabende und Feste mit uns gefeiert haben. An diesem Abend bleibt Jeromes Sessel leer. Sie bringen Cheryl Ann’s Challah, die Jerome und Ilana so gern aßen, schwere Hefelaibe, die das ganze Jahr über rund sind wie zu Rosh ha-Schana, ein wenig klebrig, mit viel Rosinen. Die letzte Challah, die Jerome gekauft hatte, lag auf dem Rücksitz seines Autos, dort wo er es geparkt hatte, um seinen letzten Fußweg anzutreten. Das ist der Vorteil eines unerwarteten Todes, daß alles bis zum Schluß Sinn ergibt und alles gleich wichtig ist, der Einkauf für den Schabbat, den man nicht mehr erleben, der Zahnarzttermin, den man nicht mehr einhalten wird. Eine Woche vor seinem Tod gewann er, der sein ganzes Leben lang vom Glücksspiel fasziniert war, im Lotto. Am Sonntagmorgen, bevor wir zu unserer Verabredung im Four Seasons nach Boston aufbrachen, rief Jerome mich mit aufgeregter Dringlichkeit ins Arbeitszimmer. Das sind doch meine Zahlen, sagte er und starrte auf den Bildschirm, lies sie mir vor, damit ich es glauben kann. Und da standen die Geburtstage seiner Mutter und seiner Tochter, nur die sechste Zahl stimmte nicht überein und wir waren nicht sicher, ob er zehntausend oder hunderttausend Dollar gewonnen hatte. Aber dann hatte er keine Zeit mehr gehabt, seinen Gewinn abzuholen und der Lottoschein war der Vernichtungswut der
Schwägerin zum Opfer gefallen, er war nirgendwo mehr auf zufinden. In seiner Jugend war er zu den Pferderennen in die Suffolk Downs gefahren, im Sommer waren die beiden Brüder oft mit ihrem Vater nach Las Vegas geflogen. Und auch, wenn er bei fast allen Wetten und Glücksspielen leer ausgegangen war, sein Hang zum Risiko, die atemlose Spannung vor den Überraschungen des nächsten Augenblicks, hatten ihn trotz vieler schmerzlicher Enttäuschungen jedesmal verläßlich mit dem Schwindel grenzenlosen Glücksversprechens belohnt.
Jeder stirbt so, wie er gelebt hat, behauptet Suzanne im Lauf des Schabbat abends. Sie ist überzeugt, daß Jerome starb, weil er sich vor einer attraktiven, sportlichen Frau keine Blöße geben wollte, und daß er so starb, wie er gelebt hatte, von einem Augenblick zum nächsten, immer in der Erwartung, das große Los zu
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