Wenn du wiederkommst
blutig,
fast roh, und die stärksten Gin Tonics. Dann saßen sie mir gegenüber, so verschieden und doch erkennbar verwandt, und wetteiferten miteinander, gaben sich gegenseitig Rätselfragen auf, als müsse jeder dem anderen beweisen, daß er der Klügere mit der schnelleren Auffassungsgabe war. Ich dachte immer, sie wollten über die Dinge, die ihnen wichtig waren, nicht vor Zeugen reden. Aber als Harolds erste Frau ihn verließ, erfuhr Jerome erst nach der Scheidung davon. Ich erzähle ihm alle kleinen Sorgen, alle unwichtigen Trivialitäten, beklagte sich Jerome, und er erzählt mir nicht einmal, daß seine Frau seit Jahren fremdgeht. Auf der Kommode im Schlafzimmer steht ein Foto von ihm mit der zweiten Frau seines Bruders als Braut, einer übergewichtigen alten Jungfer in Weiß. Emily ist genau die Art von Frau, die Jerome nicht ausstehen konnte, rechthaberisch, pedantisch, phantasielos und unbeugsam. Er hatte sie kritiklos ins Herz geschlossen, als sie die Frau seines Bruders wurde.
Unsere Kindheit war ganz anders, als er sie sich zurechtgeträumt hatte, sagt Harold. Unsere Eltern kamen aus zu verschiedenen Welten, um einander zu verstehen, der Vater starb mit neununddreißig Jahren an Krebs, wir mußten uns das Studium selber verdienen, aber Jerome hatte eine Begabung dafür, die Wirklichkeit solange umzudichten, bis sie seinen Träumen entsprach.
Harold und seine Cousins sitzen bis spät in die Nacht und erinnern sich an ihre Kindheit in der Bostoner Vorstadt, an die Bandenscharmützel mit italienischen und irischen Jugendlichen, ich kenne viele Anekdoten von Jerome, aber bei ihm klangen sie wie chassidische Geschichten voll Komik und absurder Situationen. Die Vergangenheit, von der seine Verwandten und sein Bruder reden, ist anders, wirklicher,
roher, unversöhnt. Als hätten sie in der Realität gelebt und er in einem amerikanischen Anatevka. Das ganze Leben war für ihn eine groteske Katastrophe, voller absurder Dialoge und Mißverständnisse, gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen. Eines seiner Lieblingsstücke war Warten auf Godot.
In seinem letzten Lebensjahr versuchte Jerome an früher anzuknüpfen, er erinnerte sich daran, daß er Cousinen und Cousins in seinem Alter hatte. Es waren Abschiedsbesuche in die Vergangenheit. Im letzten Sommer fuhr er zur Hochzeit eines Cousins nach Florida. Marc, ein Jahr älter als Jerome, heiratete eine langbeinige Blondine aus einer alten New England Familie, die ihren Stammbaum bis zur Mayflower zurückverfolgen konnte. Und während Jerome damals schon gespürt haben muß, daß seine Lebenskraft am Versiegen war, führte der jugendliche Mittsechziger ihm vor, daß für ihn alle unwahrscheinlichen Träume noch in Reichweite lagen. Die Cousine der Braut war Jeromes letzte Eroberung gewesen. Von dieser Reise kam er voller Begeisterung zurück, er hatte seine Familie entdeckt und machte Pläne für Einladungen und weitere Familientreffen.
Im Herbst flog er ein letztes Mal nach Deutschland zu entfernten Verwandten in Frankfurt und Berlin, und nach Österreich. Dein Vater ist alt geworden, seit ich ihn das letztemal gesehen habe, sagte er am Telefon, es wird wohl das letzte Wiedersehen gewesen sein.
Er hatte mich immer mit seiner Anpassungsfähigkeit erstaunt, die ihm jede Kultur, mit der er sich beschäftigte, rasch von innen, in ihrem Wesen zugänglich machte, noch ehe er die fremde Sprache erlernte, eine Begabung, die ihm half, die Mentalität seiner Klienten intuitiv zu erfassen, als er sich auf Asylrecht spezialisiert hatte. Aber nach dieser Europareise kam
er erschöpft zurück, und am ersten Abend, in dem Restaurant, in das wir aus Bequemlichkeit öfter als anderswohin gingen, sagte er: Ich habe mich so mühsam und freudlos von Ort zu Ort, von Hotel zu Hotel geschleppt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, wieder zu Hause zu sein. Seine schlanken Beine mit den knabenhaft schmalen Fesseln und festen Waden waren aufgedunsen, die Knöchel unsichtbar, die Haut über den Waden gespannt, bereit aufzubrechen, das Fleisch darunter wie abgestorben, wenn man darauf drückte, blieb minutenlang eine Delle, die sich nur langsam füllte. Er bekam Stützstrümpfe verordnet, die er nie trug, und nahm seine unförmigen Beine hin wie alle Alterserscheinungen, er ignorierte sie. So war er durchs ganze Leben gekommen, ohne jemals im Spital gelegen zu sein, keinen einzigen Tag. Seinen alten Freund David, der viele Jahre sein Kardiologe gewesen war, verließ er, als
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