Wenn du wiederkommst
Hurrikan im letzten Herbst undicht geworden ist. Bei Wolkenbrüchen und wenn nach einem Noreaster der Schnee schmilzt, sickert das Wasser im Arbeitszimmer durch die Abdichtungen der Fensterrahmen und läuft die Wände hinunter in den Teppichboden.
Ohne daß wir es aussprechen, fällt noch in der Schiwa-Woche der Entschluß, daß das Haus verkauft wird und zur Besichtigung geräumt werden muß.
Von Tag zu Tag werden die Gäste weniger. Zuletzt sitzen nur noch ein paar Verwandte bis spät in den Abend am Eßzimmertisch, und manchen wird erst jetzt bewußt, daß ich Jeromes Frau war und einen Anteil an vielen Jahren seines Lebens hatte, auch wenn sie unsere Beziehung nicht verstehen: Waren wir nun ein Paar oder nicht und wenn ja, warum haben wir nicht ohne Unterbrechung miteinander gelebt, warum konnte
ich nicht in der Nähe irgendeinen Job finden, wozu eine Scheidung, wenn sie nichts bedeutet? Es gelingt mir nicht, es ihnen zu erklären, sie leben in dem abgezirkelten Bereich von Familie, Einkommen, Besitz und Gewöhnung, dem wir uns nie haben ergeben wollen.
Sie wissen wenig über den Jerome, den ich kannte, sie erinnern sich an ihn nur als eigenbrötlerisches Kind, das lieber Bücher las, als mit ihnen auf der Straße zu spielen, sie sehen in ihm immer noch den pummeligen Jugendlichen, der ihnen allen als Vorbild vorgehalten wurde: Er geriet in keine Raufereien, brachte gute Noten nach Hause, studierte und machte den Eltern Freude. Harold dagegen war immer schon einer von ihnen gewesen, ein jugendlicher Rowdy, ein harter Bursche, wie er stolz betont, und wenn sie sich gemeinsam an ihre Streiche erinnern, ist er ein anderer, Jüngerer als der weißhaarige Staatsbeamte, der sich distanziert und hochmütig mir zuwendet und ironisch sagt: Schwager? Von wegen! Ich erkenne Jeromes Züge in seinem Gesicht, aber ich kann es nicht lesen. Jeder Blick, jede Nuance in Jeromes Gesicht war mir vertraut gewesen, er konnte nichts verbergen, seine Augen gaben alles preis, was er zu verstecken suchte, er log und bestritt, wie es ihm paßte, aber seine Augen und seine Stimme konnten nicht lügen. Und nun sehe ich dieselben flüchtigen Regungen im Gesicht seines Bruders, die Oberlippe, die sich in leisem Widerwillen kräuselt, das amüsierte Zucken um den Mund, die verächtlich geblähten Nasenflügel, während er den Anschein erwecken will, daß er mir respektvoll zuhört, die hin- und herflitzenden Pupillen, wenn er lügt. Und wenn er sich mit seinem Cousin Michael daran erinnert, wie sie eine gegnerische Bande, die ihnen zahlenmäßig und an Muskelkraft überlegen war, hereinlegten, dann geht er in der Darstellung
seiner Geschichten auf wie Jerome vor einem gebannten Publikum, und er lacht wie Jerome, verhalten, in sich hinein.
Zu ihrem eigenen Erstaunen beginnen mich manche Familienmitglieder im Lauf dieser Abende zu mögen, und wenn sie weggehen, umarmen sie mich unter Tränen und bedauern, mich zu Jeromes Lebzeiten nicht wirklich kennengelernt zu haben. Sie reden davon, was wir alles zusammen hätten unternehmen können, wenn sie mich nur besser gekannt hätten, und wie schade, daß der Anlaß für unsere Annäherung Jeromes Begräbnis sein mußte. Sie bringen Ilana Geschenke mit, Andenken an die gemeinsamen Großeltern, eine böhmische Granatkette, eine Erstausgabe der Bibelübersetzung von Leopold Zunz, verstaubte, vergilbte Bücher auf Deutsch, die sie nicht lesen können, mit dem Ex Libris der Großeltern, Tucholsky, Fontane, Karl May. Sie wollen die Entfremdung gutmachen, die vielleicht kein Einzelner verschuldet hat und die trotzdem geschehen ist, und jetzt ist es zu spät. Ich halte die Bücher mit dem Ex Libris zweier unbekannter Toter in Händen und schaue fragend zu Harold hinüber, schließlich waren es Bücher seiner Familie, aber er winkt ab: Ich lese nicht, und schon gar keine alten Schmöker, meine Bücher kaufe ich mir im Supermarkt für siebzig Cent. Ich weiß, er sagt es auch, um mich zu ärgern, und ich erkenne die Kluft, die Jerome von seiner Familie trennte, selbst von seinem Bruder, obwohl er es niemals zugegeben hätte, nicht einmal vor sich selber. In unserem Haus gibt es keine Wand ohne Bücherregale und in jeder Ecke wachsen schiefe Büchertürme aus dem Boden. Worüber die beiden Brüder wohl geredet haben? Harold rief immer spät nachts an, wenn ich schon schief. Wenn Harold aus San Francisco auf Besuch kam, gingen wir zusammen in sein Lieblingsrestaurant, wo es angeblich die besten Steaks gab,
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