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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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vollendete, natürliche Grazie des Menschen mit Bildung und Anstand. Er sah sich als großzügigen Lebenskünstler aus einer Ära der Schönheit und des Überflusses, und wenn er sich manchmal ganz und gar in der falschen Zeit am falschen Ort wähnte, besaß er zumindest die Phantasie zu träumen. Die meisten seiner Vorhaben waren Luftschlösser geblieben. Ich kannte sie alle, die Lotterieträume, die großen Schadensfälle mit Kompensationszahlungen in sechsstelliger Höhe, die Gastprofessur an einer renommierten Universität, am liebsten erzählte er von ihnen spät nachts, wenn wir auf dem Highway an den beleuchteten Reklamen von Kentucky Fried Chicken, Burger King, Toys’я’us, an Sunoco- und Texaco-Tankstellen vorbei nach Hause fuhren. Und nach einer Weile ließ ich mich von seiner Begeisterung für eine Zukunft, an die er selber nicht ernsthaft glauben konnte, mitreißen, wir vergaßen die Beschränkungen unseres Lebens und wetteiferten, was wir mit dem Glück, das uns erwartete, machen würden und gaben den Gewinn schon im voraus aus.
    Er war ein Träumer und ein Idealist, wiederholt Suzanne, und es ist keine Kritik, sondern eine Liebeserklärung.
    Ja, und ein wenig auch ein Phantast, bestätigt Ilana müde. Sie hat dunkle Schatten unter den Augen, weil sie, wie ich, nachts schlaflos durch das Haus schleicht. Manchmal treffen wir uns zufällig in der Küche. Da sind wir einander näher als untertags. Kannst du auch nicht schlafen? fragen wir gleichzeitig und es kommt uns vor, als sei ihre und meine Trauer die gleiche. Nicht die Trauer einer Tochter um den vergötterten Vater im Unterschied zur Trauer einer Frau um ein Leben, das
sie immer wieder für später aufgeschoben hatte, sondern eine alles verschlingende Sehnsucht.
    Er war beides, sage ich, ein Phantast und zugleich ein Pragmatiker. Wie hätte er sonst ein guter Anwalt sein können? Aber wie immer, wenn ich versuche, ihn zu definieren, wird er mir in seiner Widersprüchlichkeit ungreifbar. Eigenschaften, die unvereinbar schienen, lagen bei ihm eng beieinander und nie konnte ich im voraus wissen, welche die Oberhand gewinnen würde. Ich weiß weniger über ihn als Suzanne, die seine Jugend teilte und unterscheiden kann, was einzigartig an ihm war und wie ihn seine Herkunft, seine Schulbildung, seine Umgebung geprägt hatten. Manchmal verwendete er eine Redensart, von der ich annahm, sie wäre ein spontaner Einfall, und ich merkte erst, wenn ich sie wiederholte, daß sie ein Gemeinplatz war und die Menschen unangenehm berührte.
    Niemand hat sich so leicht von ihm beeindrucken lassen wie du, sagt Ilana und lacht, und vor niemandem hat er sich so gern produziert.
    Ich weiß, ich war ein begeisterungsfähiges Publikum, dafür war er mir auch dankbar. Gib zu, hat er oft gesagt, niemand unterhält dich so gut wie ich.
    Es ist spät geworden, und wir sind todmüde, aber ich möchte, daß Suzanne weitererzählt, damit sie nichts vergißt, von ihrer Kindheit nach dem Krieg und der Highschool-Zeit in den fünfziger Jahren, von der Senior Prom, als Jerome zu Hause blieb, weil das Mädchen, das er eingeladen hatte, mit einem anderen auf den Ball ging. Ich fürchte mich vor dem Augenblick, wenn Suzanne verstummt und sich das Fenster zu Jeromes Vergangenheit wieder schließt. Gibt es kein Mittel zu verhindern, daß die vielen Einzelheiten, die sein Leben waren, verschwinden,
als hätte es sie nie gegeben, bloß, weil sich niemand mehr an sie erinnert?

    In den Nächten schützt mich nichts vor der Gegenwart des Todes. Das unheimliche Paradox, daß Jerome in allen Dingen anwesend und trotzdem nicht mehr da ist, hält mich wach und mein Herz beginnt zu bocken und zu galoppieren, als müsse es ihm nach. Die vierzig Jahre, die sich noch vor zwei Wochen immer weiter, in eine endlose Zukunft erstreckten, sind abgeschlossen, ihr Ende wurde mit Jahreszahl und Datum vor meinen Augen in die aufgeschüttete Erde gerammt. Wieviel Zeit mir auch bleibt, sie wird von diesem Ende her gemessen werden, hinter dem sich die Vergangenheit auftürmt. Was soll jetzt noch kommen?
    Ilana spricht nicht von der Schlaflosigkeit ihrer Nächte, nur von ihren Träumen. Noch immer, wie in den ersten Tagen nach seinem Tod, erscheint der Vater ihr Nacht für Nacht, um sie zu trösten. Er holt sie vom Flughafen ab und fragt, was sie essen möchte. Eiscreme, sagt sie. Eiscreme anstatt eines Mittagessens ist nicht gesund, hält er ihr vor. Kurze Träume ohne bedeutsame Botschaften, sie sagen ihr nur,

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