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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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werden müssen, und ihre zufällige Existenz hat nichts mehr mit mir zu tun. Von Tag zu Tag fällt es mir leichter, sie in Müllsäcke zu stopfen, sie am Sonntagabend über die Schwelle zu zerren, die Stufen hinunter bis an den Rand des Gehsteigs, und jeden Montagmorgen sehe ich zu, wie sie auf die fahrende Deponie geworfen und sofort plattgedrückt werden. Welche unverhüllte Angst Jerome sein ganzes Leben lang vor diesen Müllautos hatte, als könnten die großen Schaufeln ihn erfassen und in das Innere hinunterwürgen, vielleicht mußte er jedesmal an seinen vierjährigen Freund denken und erlebte seinen Tod von neuem. Nie ließ er an einem Montagmorgen die Katzen aus dem Haus, aus Angst, sie könnten überfahren oder in einer Mülltonne gefangen zerquetscht werden.
    Das Ende ist nun nicht mehr bloß ein vages Wissen, es ist ein Datum im Kalender unwiderruflich durch unterschriebene Verträge. Die Tage sind leer und voll nutzlosen Lichts wie das leergeräumte Haus, in dem ich warte wie in einem Niemandsland
ohne zu wissen, worauf, vielleicht darauf, daß gegen Abend der Tag sich noch vollständiger entleert. Sogar die Erinnerungen haben einen unnatürlichen Nachhall, als würden sie in ein Gewölbe hineingerufen.
    Leslie hat Harold gebeten, Jeromes Büro leerzuräumen, bevor er endgültig abreist, und sich entschlossen dagegen verwahrt, daß Ilana oder ich dabei wären. Ich sei eine außenstehende Person, die Jeromes Leben nichts anginge, sagte er zu Ilana, und ihr sei die Arbeit nicht zuzumuten, sie könne sich ja vorstellen, daß dieses Büro wie der Stall des Augias aussähe. Vor welchen Geheimnissen, die zum Vorschein kommen könnten, fürchtet er sich und wen will er schützen? fragen wir uns.
    Ich habe Jeromes Dokumente in Schubladen und alten Xerox-Kartons verstreut gefunden und sie in einer Mappe gesammelt, hymnische Empfehlungsschreiben, Zeugnisse eines Studenten mit der Durchschnittsnote A-, die Abschlußurkunde summa cum laude, mehrere Jahrgänge des New England Law Journal, dessen Herausgeber er als Student war. Es scheint, als sei die Kurve zwischen dem Aufstieg, dem keine Grenze gesetzt schien, und einem unerklärlichen langsamen Versanden in alle Unternehmungen seines Lebens eingeschrieben. Alles, was er begann, zerfiel, bevor er es zu Ende brachte. Er konnte mit solcher Klarheit, solch folgerichtiger Schärfe argumentieren, im Beruf wie im Leben fand er aus jeder Sackgasse einen Ausweg, aber er hatte das unstete, von der Phantasie getriebene Temperament eines Künstlers. Seine Plädoyers seien mitreißend und brillant gewesen, hörte ich in der Trauerwoche immer wieder, an Intelligenz und Wissen hatte es ihm nicht gemangelt, sein Gedächtnis war enzyklopädisch, aber an etwas muß es doch gefehlt haben, wenn er sich
am Ende mit einem Winkeladvokaten wie Leslie zusammentat. Er habe nie einen wichtigen Prozeß verloren, sagte er einmal, aber er verlor Dokumente, Akten, er vergaß Gerichtstermine, und er verlor Prozesse, die ihm nicht wichtig waren. Der Beruf war nicht sein ganzes Leben, einzelne Lebensläufe waren es, für die er unbemessene Zeit und seine ganze Kraft hergab. Wenn er mit ansehen mußte, wie die Grausamkeit der Umstände Menschen zu Opfern des Systems machte, wurde er zum Rebell, der mit einer verbissenen Sturheit alle Instanzen durchfocht, als müsse er das Schicksal selber in die Schranken zwingen. Auch wenn er es bestritten hätte: In allem, was er tat und dachte, wurde offenkundig, daß es ihm um Gerechtigkeit ging, im Zweifelsfall gegen das Gesetz, in jedem Fall vor seinen eigenen Interessen, vor allen Nützlichkeitserwägungen. Es erfüllte mich immer wieder mit Staunen und beschämte mich, wie sicher sein Urteil war, wie unbeirrt frei von jedem Zweifel, wenn sein Gerechtigkeitsgefühl verletzt war. Da war er selbstlos und kühn bis zur Selbstzerstörung. Hier lag der unveränderbare Kern seiner in so vielen anderen Dingen ambivalenten Persönlichkeit.
    Schon Jeromes erste Wahl eines Kompagnons machte seine mangelnde Menschenkenntnis deutlich. Nach einigen mißlungenen Versuchen, in einer etablierten Firma unterzukommen, hatte er sich mit Jerry, dem Bruder einer verflossenen Freundin, zusammengetan. Auch Jerry war ein Idealist, aber seine Liebe galt den Tieren, vor allem den vom Aussterben bedrohten Arten. Weißt du, was Aussterben bedeutet, fragte er mit den weit aufgerissenen Augen und dem irren Blick eines Sektenpredigers: Es bedeutet, niemals wieder, nie, eine Ewigkeit nicht

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