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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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Ravenna, die ihn beeindruckt hatten, weil ihm das Bild des christlichen Erlösers als Triumphator soviel aufgeklärter schien als der Gekreuzigte. Er hatte eine besondere Beziehung zu Berninis David mit seiner verbissenen Entschlossenheit, und von Munchs Frauenbildern fühlte er sich angezogen und abgestoßen zugleich, wir haben oft darüber diskutiert und miteinander gestritten. In den Schuhschachteln, in denen er Hunderte von unsortierten Kunstpostkarten sammelte, um sie dann in irgendeinem Winkel zu vergessen und wieder von vorn zu beginnen, finde ich immer wieder Munchs Frau am Meer, ganz in Helligkeit getaucht, oder manchmal dunkel, unterwegs in die Auflösung, in die Dämmerung des Wassers, ihr Körper die einzige aufrechte Figur, die dem Tod einen biegsamen Widerstand leistet und eine Verlockung darstellt. Und ebenso oft das Paar am Meer, aber erst als Paar tritt plötzlich die Einsamkeit als leerer Raum zwischen die beiden. Diese quälende Isolation sei nicht vorhanden, solange eine Figur für sich allein sei, hatte er behauptet, dann ruhe sie in sich selber und hätte eine Würde, die sie verlöre, sobald der andere in unverbundener Ferne neben ihr stünde. Einsamkeit war, in seinen Augen, die Anwesenheit eines Menschen, der die Nähe verweigerte. Dieses stumme Verharren in der Abgewandtheit erschien ihm lebensfeindlich, ein Bild des Todes. Er haßte das brütende, bedeutungsvolle Schweigen, mit dem in Filmen und Romanen Beziehungskrisen dargestellt werden, er mokierte sich darüber, kühle Verweigerung war ihm unerträglich, dann schon lieber Ausbrüche und großes Drama. Verkörperte ihm
dieses Paar die monogame Ehe?, frage ich mich beim Betrachten der Bilder, ließ es ihn deshalb nicht los, weil er verstehen wollte, worin die manchmal unüberbrückbare Einsamkeit im Zusammenleben bestand und woher sie kam? Jetzt kann ich mir diese Frage leisten. Bevor wir heirateten, schrieb er mir in einem Brief, er wünsche sich, daß unsere Liebe nach vierzig Jahren immer noch so neu wäre wie ganz am Anfang, das gleiche Staunen, daß dieser Mensch einem tatsächlich gehörte, die unverbrauchte Erregung, die keinen Aufschub duldete, das Herzklopfen aus Angst und Begehren. Wer sollte solchen Erwartungen gerecht werden? Die Zeit in mir geht im Kreis, bedeckt einen im Vergleich zu den Jahren winzigen Radius an Erinnerungen, unvergessenen Sätzen, Kränkungen, Augenblicken, die sich durch Zufall festgesetzt haben, man müßte doch meinen, ich würde jedes Staubkorn auf dem Boden unseres Lebens kennen, und immer wieder beginne ich von neuem zu grübeln und in den verlassenen Überresten zu graben und komme zu keinem Schluß.
    Das erste Geschenk, das ich ihm nach zwei Monaten unserer Beziehung machte, war ein Bildband über Chagall, den Maler, dem er sich am stärksten verwandt fühlte in seiner realistisch surrealen Weltsicht, dem ekstatischen Überschwang seiner tanzenden, fliegenden Menschen, und den Themen, die er in immer neuen Variationen umkreist, Liebe, Judentum, Trauer und Lebensfreude. Es waren Jeromes Themen, und es war sein Lebensgefühl, das zwischen Melancholie und erwartungsvollen Aufbrüchen hin- und herpendelte. Vierzig Jahre oder länger schlief er unter einem großen Farbdruck von Chagalls Braut, die mit einem Blumenstrauß zum Fenster hinausfliegt, während der Bräutigam versucht, sie mit einem Kuß aufzuhalten. Als ich das Bild abnehme, sehe ich, daß der auf einem
Pappkarton aufgezogene Druck sich aus dem Rahmen gelöst hat und nur noch von einem vertrockneten Klebestreifen daran gehindert wird, auf das Bett zu stürzen.
    Die Regale bleiben nur kurze Zeit leer, dann füllen sie sich mit Dingen, die aus den vergessenen Winkeln zum Vorschein kommen. Überall liegen Muscheln und Steine von auffallender Form oder Farbe herum, von jedem Strand zwischen Maine und Newport - als Andenken an Augenblicke, deren besondere Bedeutung ich vergessen habe, weil wir bei jeder Gelegenheit ans Meer fuhren. Sogar nach einem Streit, wenn wir fanden, wir hätten einander nichts mehr zu sagen, fuhren wir an einen Strand und gingen in entgegensetzte Richtungen am Wasser entlang.
    An jedem Wochenende wiederholte sich zwischen Frühstück und Mittagessen dasselbe Ritual. Fahren wir wohin, schlug ich vor.
    Wohin willst du denn fahren? fragte Jerome.
    Keine Ahnung, vielleicht nach Süden?
    Und dann fuhren wir aufs Geratewohl die Küste entlang, an Wäldern und Sanddünen vorbei, über die Sagamore Bridge, der Einfahrt zu Cape

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