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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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mehr! Er besaß mehrere T-Shirts, alle mit derselben Aufschrift: Extinct means forever. Abgesehen davon, daß er in
Rage geraten konnte, wenn jemand Tieren etwas zuleide tat, und daß er immer einen Revolver bei sich trug, der ihm bei unbedachten Bewegungen aus der Hosentasche fiel, war er ein sanfter, rücksichtsvoller Mensch, nur eben ein wenig eigenartig und dem Wahnsinn eine Spur näher als die meisten. Sie nannten sich Jerome&Jeremy und empfingen ihre Klienten in einem alten Einfamilienhaus in Forest Hills, dessen Obergeschoß Jerry bewohnte und im Lauf der Jahre mit verschiedenen bedrohten Tierarten bevölkerte. Als ich Jerome kennenlernte, gab es dort einen weißen, noch nicht ausgewachsenen Wolf, ein Wiesel, und ein Albinokaninchen, aber im Lauf der Zeit kamen eine Boa Constrictor und ein Schaf dazu, das einem Rehkitz ähnelte. Ilana liebte Dads Kanzlei, weil sie dort immer etwas zum Streicheln fand, aber obwohl beide fähige Anwälte waren, nahm die Zahl der Klienten in dem Maß ab, in dem Jerrys Zoo wuchs. Schließlich spitzte sich die Lage zu, als der Wolf das Kaninchen fraß und die Boa Constrictor nicht aufzufinden war. Jerry mußte jeden, der das Haus betrat, vor der frei umherstreifenden Riesenschlange warnen, außerdem durchzog beißender Wildtiergeruch das Haus, und als die letzten Klienten weggeblieben waren, verließ auch Jerry sein Domizil und schloß sich als Backgroundsänger einer Band an. Das Haus benutzte er nur mehr als Müllhalde, und die Tiere übergab er dem Stonehill Zoo. Als Ilana klein war, sangen wir Jerry Weisfield had a farm, es war ein Lied mit einem traurigen Ende.
    Dann kamen Jeromes Triumphe als Strafverteidiger, seine sichere Teilhaberschaft in einer Bostoner Kanzlei, mit einer Sekretärin, die ihn davor bewahrte, Termine zu versäumen und Akten zu verlieren, es waren gute Zeiten finanzieller Sicherheit, an denen ich keinen Anteil hatte, sie dauerten nicht
über unsere Jahre der Trennung und Ilanas Studium hinaus. Es waren gezählte Sonnentage, die nächste Niederlage bahnte sich bereits an. Vielleicht war es der Überdruß oder die Schwermut, die ihn von Zeit zu Zeit, oft ohne äußeren Anlaß niederdrückte und das Ende beschleunigte, als seien Streben und Schicksal unversöhnliche Gegensätze. Ich müßte seinen Freund Steve ausfindig machen, um zu erfahren, was genau in jener Bostoner Anwaltsfirma geschehen war, Harold und Leslie werden es mir nicht sagen. Ich weiß nur, daß er von seinen Kompagnons um viel Geld geprellt wurde und einen Grund gehabt haben muß, sich vor einem angedrohten Strafverfahren zu fürchten und das Feld zu räumen, ohne sich zu wehren. Einige Jahre später kam sein Widersacher bei einem Autounfall ums Leben, und Jerome machte sich Vorwürfe. Vielleicht habe ich ihn ja auf dem Gewissen, mutmaßte er, ich habe ihm so inbrünstig den Tod gewünscht. Er war immer überzeugt gewesen, daß starke Wünsche zu Kräften werden konnten, die ins wirkliche Leben eingriffen. Vielleicht hoffte er deshalb am Ende seines Lebens, ich könnte den Tod von ihm fernhalten, wenn ich es nur mit allen Kräften wünschte.
    Aber nach jedem Überdruß und jeder Strecke der Entbehrungen kam ein Neuanfang, in den er seinen ganzen Ehrgeiz und seinen Optimismus steckte, und das Leben war wieder voller Versprechen und Geheimnisse. Er arbeitete sich ins Asylrecht ein, aber er konnte sich nicht aus Intrigen heraushalten, der zwielichtige Bereich der Illegalität, in dem manche seiner Klienten jahrelang gelebt hatten, machte ihn ratlos. Manchmal führte ihn sein Mitgefühl selber in eine Grauzone des Rechts. Das Asylverfahren eines jungen libanesischen Ehepaares verstrickte ihn in eine Familienfehde, bei der die Abschiebung des jeweils anderen Partners betrieben, Jerome
hinters Licht geführt und für ihre Familienpolitik ausgenutzt wurde. Sein Freund Steve, der Richter, hatte gesagt, Intrigen sei Jerome nie gewachsen gewesen. In seinen Versuchen, Klienten zu schützen, geriet er zwischen die Fronten und wurde hintergangen, weil die Rechtlosen, für die nicht einmal die amerikanische Verfassung galt, niemandem trauten, auch ihrem Anwalt nicht. Dieser Abschnitt seines Lebens führte nach wenigen Jahren zu resigniertem Schweigen, die tragischen Lebensgeschichten, die er mir erzählte, brachen ab.
    In den letzten Jahren hatten Not und Tugend ihn immer mehr zu dem gemacht, was Rabbi Schaefer einen Anwalt der Armen nannte. Wenn jemand im Supermarkt auf dem feuchten Boden ausrutschte,

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