Wenn du wiederkommst
drückte er ihm mit seiner umständlichen Behutsamkeit seine Visitenkarte in die Hand: Ich bin Anwalt, rufen Sie mich an. Delogierungen, Zwangseinweisungen, gebrochene Gliedmaßen in öffentlichen Räumen, das tagtägliche Unrecht, das den Rechtlosen auf Schritt und Tritt zuzustoßen scheint, wurde sein Arbeitsfeld. Er wartete mit seinen Klienten vor verschlossenen Türen in schäbigen Distriktgerichten, holte sie aus Gefängnissen heraus, in die sie wegen geringfügiger Übertretungen und aus Mangel an Schläue geraten waren, ihre Armut färbte allmählich auf ihn ab, auf die Art, wie er sich kleidete, wie er sich gab. Jetzt war er wieder verläßlich wie in den besten Zeiten, er konnte sie nicht im Stich lassen, sie hatten ja niemanden außer ihm. Mitten in der Nacht riefen sie an, am Rand eines Zusammenbruchs, jammerten in wirren, von Verfolgungsängsten angetriebenen Tiraden, er müsse kommen, jetzt sofort. Gleich morgen in der Früh, vertröstete er sie und stand um sechs Uhr auf, um sie vor dem Abtransport ihrer Habe und anderem Unheil zu bewahren. Aber sie achteten ihn nicht, er war zu sehr einer von ihnen geworden,
und für die wichtigen Prozesse nahmen sie bekannte Anwälte und hatten auf einmal auch das Geld dafür. Wer nichts verlangte, war nichts wert. Als im März, zwei Monate vor seinem Tod, eine Tochter seiner alten Freundin Vicki, die er seit langem unterstützte, von einem Lastwagen angefahren wurde und mit gebrochenen Knochen im Spital lag, wies Vicki sein Angebot, sie zu vertreten, kühl zurück: Nein, diesmal gehen wir zu einem richtigen Anwalt, diesmal geht es um eine ganze Menge Geld. Es kränkte ihn, aber er nahm es hin, schweigend und resigniert, wie er in dieser letzten Zeit alles hingenommen hat. Zur gleichen Zeit kam wie zum Trost die Chance auf einen großen Schadensprozeß, eine Tote und ein Schwerverletzter an einer Autobahnauffahrt, und das Recht war eindeutig auf Seite der Geschädigten, ein Schadensfall um Millionen, versprach Jerome dem Sohn der beiden Unfallopfer. Wenige Tage nach dem Begräbnis rief eine Anwaltskanzlei an, mit der er zusammengearbeitet hatte, um den Fall mit der üblichen Provision zu übernehmen: ob ich nicht wenigstens den Namen des Klienten wisse. Ja, sagte ich, ein gewisser Mr. Lee. Aber es gibt mehrere Seiten mit diesem Namen im Telefonbuch, den Vornamen wußte ich nicht. Wie so oft hatte Jerome Adresse und Telefonnummer verloren.
Als Harold und Emily von ihrer Aufräumarbeit im Büro zurückkommen, sind sie so wortkarg, wie ich es erwartet habe. Aber sie übergeben mir einen Brief, und aus der grimmigen Genugtuung in der Miene meiner Schwägerin schließe ich, daß sie ihn gelesen haben. Nach all den Jahrzehnten, die vergangen sind, erkenne ich die Schrift meiner engsten Freundin zur Zeit meiner Matura sofort wieder. Er hatte sie kennengelernt, als ich ihn zum erstenmal auf Besuch nach Hause mitnahm. Lieber Jerome, schreibt sie, es tut mir schrecklich leid, daß
Dich Deine Frau verlassen hat und auch daß es Dir so nahegeht, aber ich kann Dir dabei nicht helfen. Du weißt ja, wie sie ist, egoistisch und uneinsichtig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ich fürchte, niemand kann sie dazu bewegen, zu Dir zurückzukehren, jedenfalls nicht jetzt. Noch aus diesen zurückhaltenden Sätzen kann ich die Dringlichkeit und Verzweiflung seines Briefes herauslesen. In der rechten Ecke ein Datum im Oktober des Jahres, in dem ich nach Österreich zurückkehrte. Meine Knie geben nach, und ich lasse mich auf meinen Sessel am Eßtisch fallen. Warum hat es mir niemand gesagt, frage ich seinen leeren Stuhl, warum hat sie mir deinen Brief nicht gezeigt, warum habt ihr über mich verhandelt, ohne mich zu fragen?
Ich wäre zurückgekommen, beteuere ich ihm, ganz sicher, ich habe mich so nach einem Brief von dir gesehnt, einem Anruf, irgendwas. Meine Angst, für immer von dir und dem Kind abgeschnitten zu sein, steigerte sich manchmal zu einer so unerträglichen Panik, daß ich dachte, das überlebe ich nicht.
Erst später, nach einem Jahr, begann ich mich in meinem neuen Leben einzurichten und merkte, daß es mir gefiel. Aber bis jetzt war ich überzeugt gewesen, daß Jerome mich verlassen habe, nicht ich ihn. Wir versöhnten uns, aber von da an verbargen wir unsere Liebe voreinander, aus Vorsicht und aus Angst vor der Zurückweisung. Wir kamen uns näher, manchmal so nah, daß ich dachte, ich müsse nur meine Hand nach ihm und unserem alten Leben ausstrecken und es
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