Wenn du wiederkommst
Cod, und atmeten bei offenen Fenstern den Salzgeruch des Marschlands, den herben Geruch der Pinien, den Duft von frischem Heu und Gemüse, und nach wenigen Kilometern waren wir in einer anderen, freieren Welt.
Immer wenn Jerome mich zum Flughafen brachte, nahm er den kleinen Umweg für einen letzten Blick aufs Meer, als müsse ich zurückkommen, wenn schon nicht seinetwegen, dann weil ich doch ohne Meer auf Dauer nicht leben könne. Wenn ich zurückkam, wanderten wir noch am selben Abend ein Stück an der Strandpromenade entlang, in Europa und meinem Zeitgefühl nach war es längst nach Mitternacht, aber
hier ging im Sommer die Sonne gerade erst über der Bucht unter, Boote wurden an Land gezogen, das Meer war wie milchige Jade und die Mole schwarz gegen den roten Himmel. Wenn ich im Winter ankam, war es oft kalt und windig, und die Wasserfläche metallisch hell unter den tief hängenden Schneewolken, aber auch dann stiegen wir kurz aus dem Auto, um die Brandung zu hören, diesen ewigen Ton der Trauer.
In den letzten Jahren verbrachten wir die Wochenenden nach Labor Day, im Oktober bis in den November, in unserem Haus auf Cape Cod, dann waren wir die einzigen Bewohner und die Feriendörfer wie ausgestorben, Möwenschwärme versammelten sich auf dem leeren Strand, stürzten sich auf die zerschellten Muscheln, das Wasser war durchsichtig bis auf den steinigen Grund, und nachts hörte man das hohle Donnern der Brandung so laut, als spülte sie uns den ganzen Inhalt des Atlantiks vor die Veranda, und trotzdem gibt es kein beruhigenderes Geräusch als das regelmäßige Rauschen der Brandung an einem Regentag. Ich füllte viele Fotoalben mit Aufnahmen vom Meer, keine Landschaft ist so vielfältig und so wandelbar, und wir dachten, es würde immer so weitergehen, mit den Ausflügen, dem Fotografieren, dem Muschelsammeln.
Ich stelle die alten gerahmten Fotos aus seiner Jugend auf die Regale, weil sie mir einen Menschen zeigen, den ich nicht kenne, als Napoleon verkleidet bei einem Purimfest, als Kind in der Badehose zwischen schlanken Frauen in züchtigen Badeanzügen und Frisuren der vierziger Jahre, ein glücklicher Sommertag der Kindheit mit Hitze, Eiscreme, Nichtstun, Sand und Wasser. Und plötzlich fällt mir auf, daß ich das Haus für ihn neu einrichte und alle Dinge, die ihm etwas bedeuten würden, ins Wohnzimmer schleppe, die Bücherregale sind eine einzige Hommage an ihn. Die Möbel sind auf Hochglanz
poliert, die Spannteppiche gereinigt, alle gedankenlos abgelegten Gegenstände sind weggeräumt, die Bücherkartons abgeholt, alles Überflüssige, Häßliche, die Mitbringsel aus billigen Geschenkläden weggeworfen, es ist weniger vollgeräumt als früher, eleganter, die wenigen verbliebenen Gegenstände von einer fast feierlichen Bedeutung, für das Sofa habe ich in einem Schrank einen neuen Überwurf gefunden, der zu den Fauteuils paßt, die ramponierten alten Stühle und die gestrickten Überwürfe seiner Großmutter habe ich für die Müllabfuhr an den Straßenrand gestellt, und sein überlebensgroßes Foto beherrscht vom Weinregal aus immer noch den Raum. Und jetzt sitze ich in meinem Samtfauteuil und warte, daß er kommt, gehe von Zeit zu Zeit in die Küche und schaue auf die Straße hinaus, ob ein blauer Toyota um die Ecke biegt und vor unserer Einfahrt durch die Pfütze fährt, die selten ganz austrocknet. Ich warte, daß er kommt und das Resultat von vier Wochen harter Arbeit bewundert, das ihm mehr als alle Worte sagen würde: Schau, so schön könnten wir es haben, wenn du mir erlaubtest, in deinem Leben die Rolle zu spielen, die ich mir seit langem wünsche. Ich warte, um ihm das Leben, dem ich mich all die Jahre widersetzte, zum Geschenk zu machen. An manchen Tagen ist er lebendiger als zu Lebzeiten und die Erinnerungen sind wie Pläne für die Zukunft, ich lasse mich von Hoffnungen verleiten, daß sich alles nachholen ließe, und wie ein Kind im Fiebertraum flehe ich: Nur noch ein einziges Mal, bevor das Licht ausgeht, noch ein allerletztes Mal, bitte!
V
Das erste Jahr
Von jetzt an beginnt der Aufbruch Wirklichkeit zu werden. Es gibt einen Abholtermin der Speditionsfirma, die unser Hab und Gut nach Providence und nach Österreich übersiedelt, und einige Tage später sollen die Schlüssel dem Makler übergeben werden. Die vielen Dinge, die das Haus bevölkert haben und einen Zweck erfüllten, geben nichts mehr her, weder Wärme noch einen vertrauten Duft, sie sind Gegenstände, die weggeschafft
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