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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Mitgutsch
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In einem kleinen Fach in der Schlafzimmerkommode seiner Mutter finde ich Gedichte, Gedanken eines Menschen, der sich dem Tod nahe fühlt, die Angst vor dem langsamen Verfall des Körpers, den er entsetzt an sich beobachtete, ein klarsichtiger Blick auf den vorgezeichneten Weg in die Vernichtung. Es sind Notizen in Gedichtform, kurz und kunstlos und deshalb so bestürzend. Wann hat er sie geschrieben? Wie wird er mich antreffen, fragt er, wird er die Axt sein, die meinen Schädelspaltet, oder sich langsam an meinen Eingeweiden mästen, bis ich vor Schmerzen brülle? Und gleichzeitig
diese besessene Sehnsucht nach Jugend, nach einer Frau, die über den Tod noch lachen kann, wie Philips Mädchen. Manchmal belauschte ich ihn unter der Dusche, wenn er mit seinem Widersacher Zwiesprache hielt. Nein, keine Chance, erklärte er triumphierend. Sein stummer Widerpart war nie seiner Meinung, Jerome wies ihn grimmig in seine Schranken. Ich habe ja gar nicht erwartet, daß du es so siehst, antwortete er seinem Phantom, ach, vergiß es, ich trau dir auch nicht. Wer war der Widersacher seiner Streitgespräche? Was verheimlichte er?
    Er hätte es in Kauf genommen, mit seiner Todesangst allein zu bleiben, wenn er sich nur für Stunden die Illusion der Jugend hätte verschaffen können. Ich verstehe, daß ich mich dazu nicht eignete, wir gingen seit fünfunddreißig Jahren im gleichen Tempo dem Verfall entgegen, nahmen ihn schweigend und manchmal mit Schrecken am ändern wahr. Da war ich schon einmal, sagte er zu Erfahrungen, die er bereits gemacht hatte. Been there, done that. Ich hatte es früher als er begriffen, mein alternder Körper hatte es mir beigebracht, daß wir im Lauf des Lebens nur eine gewisse Anzahl von Jahren und von Menschen zugeteilt bekommen, die wichtig für uns sind. Er muß die Zeichen des Alters an mir gesehen haben, und er beschämte mich nie mit Worten, aber manchmal sah ich etwas wie Widerwillen in seinen Augen, so flüchtig, daß ich nicht sicher sein konnte. An meiner Seite würde er dem Tod nicht entfliehen können, die Frage war nur, wer von uns beiden zuerst an die Reihe kam. In solchen Augenblicken, in denen ich seinen Überdruß spürte, argwöhnte ich, daß er mich los sein wollte. Aber nein, beschwichtigte er mich, doch seine Stimme blieb ironisch, ich liebe dich ja, glaubst du, ich würde dich ertragen, wenn ich dich nicht liebte? Dann lachten wir,
und was wir dabei empfanden, war etwas, das der Liebe zumindest sehr nahe kam.

    Die Räumung des Souterrains habe ich mir bis zum Schluß aufgespart. Es ist der unterste, wie ein Biberbau in die Uferböschung hineingesetzte Teil des Hauses, und was von oben friedlich und heiter wirkt, sieht von hier unten morastig und düster aus. Trotz der Fensterfront über die ganze Länge des Raums herrscht hier immer ein dumpfes Zwielicht wie in einem Aquarium, über das in der kalten Jahreszeit, wenn die Äste kahl sind und der Raum heller wird, Lichtreflexe vom Fluß herauf irrlichtern. Das Souterrain war Jeromes eigenes Reich, in das nicht einmal die Katzen Zutritt hatten, ein wie das Innere einer Holzschatulle getäfelter Raum mit einer Kassettendecke, eine große Truhe, in der er alles begrub, was ihm irgendwann etwas bedeutet hatte. Hier herrscht das Durcheinander willkürlich aufeinandergehäufter Dinge, die jahrzehntelang den Blicken entzogen, dennoch sichtbar und gegenwärtig bleiben sollten. Manchmal hatte ich mich gefragt, wohin manche alte Sachen gekommen waren, plötzlich waren sie verschwunden und hier, in der Düsternis eines Lusters, auf dem die Hälfte der Glühbirnen ausgebrannt ist, finde ich sie wieder: Ilanas Schaukelpferd, die Babybadewanne, ein Kinderschuh, kollabierte Türme aus Schulbüchern, seinen, Ilanas, sogar solchen, die Harold gehört haben, eine Bibel, die von Harolds Bar Mizwa stammt. Vieles zerfällt mir in der Hand und ist von einer grünlichen Schicht Schimmel überzogen, der Modergeruch reizt die Atemwege. Jeromes ganze Kindheit und Jugend ist hier begraben, Playboy-Hefte von den sechziger
bis in die neunziger Jahre neben Winnie-the-Pooh, und sämtlichen Sesame Street Kassetten, es könnte sein, daß manche Dinge ihres Alters wegen wertvoll sind, aber ich habe nicht die Kraft, sie einzeln zu sortieren, ich stopfe sie mit abgewandtem Gesicht in die Müllsäcke, um nicht am aufgewirbelten Staub zu ersticken. Hinter dem Rolltop des alten Schreibtischs mit vertikalen Brieffächern finde ich Geschenke, die er nicht einmal ausgepackt

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