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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Neugeborene als dem ersten Geschmack, der alle weiteren in sich enthält.
    Ich betrachte Anacletas Gesicht, dieses schöne Indianergesicht, kaum aufgedunsen vom Alter und von keiner Runzel zerfurcht, ich betrachte den breiten, in die Decke gehüllten Körper und frage mich, ob es die hohe Wölbung ihrer nun weich abfallenden Brust gewesen sein könnte, an welche ich mich als Säugling geklammert.
    »Also hast du meinen Vater gekannt, Anacleta?«
    »Ach, Nacho, hätte ich ihn bloß niemals gekannt! Es war kein guter Tag, als er seinen Fuß nach Oquedal setzte. «
    »Warum nicht, Anacleta?«
    »Er brachte nur Unheil über uns Indios. und nicht mal den Weißen brachte er Gutes. Dann verschwand er. Doch auch der Tag, als er fortging aus Oquedal, war kein guter Tag. «
    Aller Indios Augen sind reglos auf mich gerichtet, Augen wie Kinderaugen betrachten starr und ohne Vergebung einen ewig Präsenten.
    Amaranta ist Anacletas Tochter. Sie hat weite schräggeschnittene Augen, eine schmale Nase mit leicht geblähten Flügeln und feine gewellte Lippen. Ich habe ähnliche Augen wie sie, unsere Nasen und Lippen sind gleich. »Nicht wahr, wir ähneln uns, Amaranta und ich?« frage ich Anacleta.
    »Alle, die in Oquedal geboren sind, ähneln sich. Indios und Weiße haben Gesichter zum Verwechseln. Wir sind ein abgelegenes Bergdorf mit nur ein paar Familien. Seit Jahrhunderten heiraten wir bloß unter uns.«
    »Mein Vater kam von auswärts. «
    »Eben! Wenn wir die Fremden nicht mögen, haben wir unsere Gründe.«
    Die Münder der Indios öffnen sich zu einem gedehnten Seufzen, Münder mit spärlichen Zähnen und keinem Zahnfleisch, zersetzt und zerfallen wie bei Skeletten.
    Vorhin im zweiten Hof sah ich ein Bild, die vergilbte Fotografie eines jungen Mannes, bekränzt mit Blumen und beleuchtet von einem Öllämpchen. »Auch der Tote dort auf dem Bild hat diese Familienähnlichkeit. «, sage ich zu Anacleta.
    »Das ist Faustino Higueras, Gott hab ihn selig im Glorienschein seiner Engel!« sagt Anacleta, und zwischen den Indios steigt ein Gebetsmurmeln auf.
    »War er dein Mann, Anacleta?« frage ich.
    »Mein Bruder war er, Schwert und Schild unseres Hauses und unserer Leute, bis der Feind seinen Weg kreuzte. «
     
    »Wir haben die gleichen Augen«, sage ich zu Amaranta, als ich sie im zweiten Hof zwischen den Säcken einhole. »Nein, meine sind größer«, sagt sie.
    »Wir brauchen ja nur zu messen.« Und ich nähere mein Gesicht dem ihren, so daß die Bögen unserer Brauen aufeinanderzuliegen kommen, dann drücke ich meine Brauen gegen die ihren und drehe langsam mein Gesicht, so daß unsere Schläfen, Backenknochen und Wangen einander berühren. »Siehst du, unsere Augenwinkel enden am selben Punkt.«
    »Ich sehe gar nichts«, sagt Amaranta, bleibt aber reglos stehen.
    »Und unsere Nasen«, sage ich und lege mein Nasenbein an das ihre, ein bißchen schräg, um unsere Profile zusammenzubringen. »Und unsere Lippen. ..«, grunze ich mit geschlossenem Munde, denn auch unsere Lippen liegen nun aufeinander, genauer: mein halber Mund auf ihrem halben.
    »Du tust mir weh!« sagt Amaranta, während ich sie mit dem ganzen Körper gegen die Säcke presse und dabei die Knospen ihrer schwellenden Brüste spüre und die Zuckungen ihres Leibes.
    »Kanaille! Schwein! Deswegen also, deswegen bist du hergekommen nach Oquedal! Genau wie dein Vater!« gellt Anacletas Stimme in meinen Ohren, und ihre Hände packen mich an den Haaren und schlagen mich gegen die Pfosten, indes Amaranta, von einem Handrücken ihrer Mutter getroffen, wimmernd zwischen den Säcken liegt. »Du rührst meine Tochter nicht an! Du nicht! Niemals im Leben!«
    »Wieso niemals im Leben? Was könnte uns daran hindern?« protestiere ich. »Sie eine Frau, ich ein Mann. Wenn das Schicksal es wollte, daß wir einander gefielen, nicht heute, irgendwann, eines Tages, wer weiß. Warum sollte ich sie nicht freien?«
    »Verfluchter!« schreit Anacleta. »Es geht nicht! Du darfst es nicht einmal denken, verstehst du?«
    Dann ist sie wohl meine Schwester, fährt es mir durch den Sinn. Warum gibt Anacleta nicht zu, daß sie meine Mutter ist? »Was schreist du so, Anacleta?« frage ich. »Gibt es zwischen uns etwa Bande des Blutes?«
    »Des Blutes. ?« Anacleta kommt wieder zur Besinnung, der Saum ihrer Decke hebt sich langsam, bis er ihre Augen bedeckt. »Dein Vater kam von weither. Was für Blutsbande kann er da mit uns haben. ?«
    »Aber ich bin in Oquedal geboren.    geboren von einer

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