Wenn ein Reisender in einer Winternacht
fürchtete schon, da ich seine Neigung zum Abschweifen kannte, zum Spicken all seiner Reden mit Einschüben, Rückblicken, Nebengedanken, er werde nicht mehr dazu kommen, mir das Wesentliche zu sagen. »Rasch, sag mir den Namen, mein Vater, den Namen des Menschen, nach dem ich in Oquedal fragen soll. «
»Deine Mutter. Deine Mutter, die du nicht kennst, lebt in Oquedal. Deine Mutter, die du nicht mehr gesehen hast, seit du in Windeln warst. «
Ich wußte, daß er vor seinem Tode noch von meiner Mutter sprechen würde. Er war es mir schuldig, nachdem er mich meine ganze Kindheit und Jugend hatte durchleben lassen, ohne mir jemals kundzutun, wie sie aussah noch welchen Namen sie trug, die Frau, die mich geboren hatte, noch auch, warum er mich von jener Brust gerissen, als ich noch an ihr sog, um mich mitzuschleppen in sein unstetes Vagabunden- und Flüchtlingsleben. »Wer ist meine Mutter? Sag mir den Namen!« Viele Geschichten hatte er mir über meine Mutter erzählt in den Jahren, als ich noch nicht müde wurde, nach ihr zu fragen, doch es waren Geschichten, Erfindungen, die einander widersprachen: Bald war sie eine arme Bettlerin, bald eine fremde Dame auf Durchreise in einem roten Automobil, bald eine Nonne im Kloster, bald eine Zirkusreiterin, bald war sie bei meiner Geburt gestorben, bald verschollen bei einem Erdbeben. So beschloß ich denn eines Tages, nicht weiter zu fragen und abzuwarten, daß er ungefragt von ihr sprach. Ich war eben sechzehn geworden, als mein Vater vom gelben Fieber befallen wurde.
»Laß mich mit dem Anfang beginnen«, ächzte er. »Wenn du nach Oquedal kommst und sagst: >Ich bin Nacho, der Sohn des Don Anastasio Zamora<, wirst du vielerlei über mich hören, Lügengeschichten, Gerüchte, Verleumdungen. Doch wisse. «
»Den Namen! Rasch! Meiner Mutter Namen!«
»Wohlan. Der Augenblick ist gekommen. So wisse denn. «
Doch nein, der Augenblick kam nicht mehr. Nachdem sich der Redefluß meines Vaters in leere Einleitungsfloskeln ergossen hatte, verlor er sich in einem Röcheln und versiegte für immer. Der Jüngling, der nun im Dunkeln die steilen Pfade über San Ireneo erklomm, wußte noch immer nicht, welchen Ursprüngen er da entgegenritt.
Ich hatte den Weg am Rande der Klippen hoch über dem trockenen Flußbett genommen. Die Morgendämmerung, die auf den ausgezackten Konturen des Waldes hängenblieb, schien mir nicht einen neuen Tag zu verkünden, sondern einen Tag, der vor allen anderen Tagen kam, neu im Sinne der Zeit, als die Tage noch neu waren, wie der erste Tag, an welchem die Menschen begriffen hatten, was ein Tag war.
Und als es hinreichend Tag war, um auf das andere Ufer des Canons zu sehen, bemerkte ich, daß dort gleichfalls ein Weg verlief, auf dem einer ritt, in gleicher Höhe und gleicher Richtung wie ich, ein Reiter mit einem langläufigen Armeegewehr über der Schulter.
»He!« rief ich hinüber. »Ist es noch weit bis Oquedal?«
Er drehte sich nicht einmal um; oder genauer, und das war noch schlimmer, mein Anruf ließ ihn den Kopf kurz wenden (andernfalls hätte ich ihn für taub gehalten), doch gleich darauf schaute er wieder geradeaus und ritt weiter, ohne mich einer Antwort oder auch nur einer grüßenden Geste zu würdigen.
»He, du da! Ich rede mit dir! Bist du taub? Bist du stumm?« rief ich, während er fortfuhr, sich zum Schritt seines Rappens im Sattel zu wiegen.
Wer weiß, wie lange wir schon so als Paar durch die Nacht geritten sein mochten, getrennt durch den tiefen Einschnitt der Schlucht. Was ich für das unregelmäßige Echo der Huftritte meiner Stute gehalten, wie es sich brach am rauhen Kalkfelsen auf dem anderen Ufer, war in Wirklichkeit das Getrappel der mich begleitenden Schritte.
Er war ein Jüngling, ganz Rücken und Hals, auf dem Kopf einen Strohhut mit Fransen. Verärgert über sein unfreundliches Gebaren gab ich meiner Stute die Sporen, um ihn zurückzulassen und nicht mehr vor Augen zu haben. Kaum hatte ich ihn überholt, ließ eine spontane Eingebung mich den Kopf nach ihm wenden. Er hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und hob es, wie um auf mich anzulegen. Rasch fuhr meine Hand zum Kolben des Karabiners, der im Halfter an meinem Sattel stak. Er schulterte sein Gewehr und ritt weiter, als ob nichts gewesen wäre. Von nun an ritten wir nebeneinander im Gleichschritt, jeder auf seinem Ufer, und ließen uns nicht aus den Augen, sorgsam darauf bedacht, uns nicht den Rücken zu kehren. Meine Stute glich ihren Schritt dem
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