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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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sich ihre Röcke hinten ein paar Zentimeter und zeigen die Höhlung zwischen Wade und Oberschenkel, wo die Haut am weißesten ist und durchzogen von einer feinen hellblauen Vene. Die Personen nehmen allmählich Gestalt an in dieser Häufung von winzigen Einzelheiten und präzisen Bewegungen, aber auch von Bemerkungen, Scherzen, Gesprächsfetzen, etwa wenn der alte Huuder sagt: »Dies Jahr läßt er dich aber nicht so hoch springen wie letztes Jahr«, und ein paar Zeilen weiter begreifst du, daß er vom roten Pfeffer spricht, und Tante Ugurd sagt: »Du bist es, der jedes Jahr etwas weniger hoch springt«, während sie mit einem Holzlöffel aus dem Kochtopf kostet und eine Prise Zimt beifügt.
    Ständig entdeckst du neue Personen, man weiß nicht, wie viele anwesend sind in dieser unserer geräumigen Küche, es hat keinen Zweck, uns zu zählen, wir waren immer sehr zahlreich in Kudgiwa, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Du würdest dich dauernd verzählen, denn verschiedene Namen können zu ein und derselben Person gehören, die je nachdem mit ihrem Taufnamen, Beinamen, Zunamen, Vatersnamen oder auch mit Bezeichnungen wie »Jans Witwe« oder »der Junge vom Maiskolbenladen« benannt wird. Was jedoch zählt, sind die körperlichen Details, die der Roman hervorhebt, die abgekauten Fingernägel von Bronko oder der Flaum auf den Wangen von Brigd, desgleichen die Gesten und Verrichtungen der Personen, und die Geräte, mit denen diese oder jene hantiert, der Fleischklopfer, das Wiegemesser zum Zerkleinern der Kresse, der Buttergarnierer, dergestalt, daß jede Person durch dieses ihr Tun oder Attribut nicht nur bereits eine erste Definition erhält, sondern man auch gleich mehr über sie erfahren möchte, als bestimme der Buttergarnierer bereits den Charakter und das weitere Schicksal dessen, der im ersten Kapitel mit einem Buttergarnierer in Händen vorgestellt wird, ja, und als stelltest du, Leser, dich bereits darauf ein, bei jedem erneuten Auftritt des Betreffenden auszurufen: »Ah, der mit dem Buttergarnierer!«, um so den Autor seinerseits zu verpflichten, ihm Handlungen und Ereignisse zuzuordnen, die zu dem eingangs erwähnten Buttergarnierer passen.
    Unsere Küche in Kudgiwa schien wie geschaffen, um jederzeit vielen Personen Aufenthalt zu gewähren, ständig kam jemand herein, um sich irgendein Essen zuzubereiten, der eine schälte Kichererbsen, der andere legte sich Schleien ein, alle schnitzelten oder kochten oder aßen etwas und gingen wieder, um anderen Platz zu machen, vom Morgengrauen bis spät in die Nacht, und obwohl ich an jenem Morgen sehr früh heruntergekommen war, herrschte in der Küche schon munteres Treiben, denn es war ein besonderer Tag: Am Abend zuvor war Herr Kauderer mit seinem Sohn gekommen, und nun sollte er wieder abfahren, diesmal mit mir statt mit seinem Sohn. Es war das erste Mal, daß ich von zu Hause fortging: Ich sollte den Sommer auf dem Gut des Herrn Kauderer in der Provinz Petkwo verbringen, den ganzen Sommer bis zur Roggenernte, um mich dort mit den neuen, aus Belgien importierten Trockneranlagen vertraut zu machen, während Ponko, Kauderers Jüngster, dafür bei uns bleiben sollte, um sich im Pfropfen der Eberesche zu üben.
    Die vertrauten Gerüche und Geräusche des Hauses umdrängten mich an jenem Morgen wie zu einem Abschied: Alles, was ich bisher gekannt hatte, würde ich nun verlieren, und zwar für eine so lange Zeit, wie mir schien, daß hinterher nichts mehr so sein würde wie zuvor, auch ich würde nicht mehr derselbe sein, und darum kam es mir wie ein Abschied vor, ein Abschied für immer, mein Abschied von dieser Küche, vom Haus, von den Knödeln der Tante Ugurd; aus dem gleichen Grunde enthielt auch dieses Gefühl der Konkretheit, das du schon beim Lesen der ersten Zeilen verspürtest, ein Gefühl von Verlust, das Schwindelgefühl der Auflösung; und nun wird dir auch bewußt, als aufmerksamer Leser, der du bist, daß dir dies von der ersten Seite an irgendwie deutlich war, als du bei allem Vergnügen an der Präzision dieser Schreibweise spürtest, daß dir, um die Wahrheit zu sagen, alles zwischen den Fingern zerrann; womöglich liegt's auch, sagtest du dir, an der Übersetzung, die bei allem Bemühen um Treue zum Original gewiß nicht die körperliche Substanz wiedergibt, die jenen Ausdrücken zweifellos in der Originalsprache eignet, welche auch immer das sein mag. Kurzum, jeder Satz will dir nun sowohl die Dauerhaftigkeit meiner Beziehung zum Hause Kudgiwa

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