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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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Körperlichkeit des Buches eindringt, um dir Zugang zu dessen immaterieller Substanz zu verschaffen. Von unten fährt die Klinge zwischen die Seiten, gleitet schwungvoll empor und öffnet den seitlichen Rand mit einer raschen Folge von Schnitten, die Faser um Faser erfassen und niedermähen; mit einem freudigen hellen Ratschen empfängt das brave Papier diesen seinen ersten Besucher, der ihm ein vielfaches Umwenden seiner durch Wind und Blicke erregten Seiten verheißt. Größeren Widerstand leistet der Falz am oberen Rand, zumal wenn er doppelt liegt, da er eine ungewohnte Rückhandbewegung erforderlich macht; hier ist das Geräusch ein ersticktes Reißen mit dunkleren Noten. Die Ränder der Seite sind ausgezackt, man sieht ihr Fasergewebe; ein feines Gewölle, auch »Locke« genannt, wirbelt auf, hübsch anzusehen wie die Schaumkronen auf den Wellen am Strand. Das Zersäbeln des Blätterdickichts verbindet sich mit dem Gedanken an die Fülle dessen, was alles im Wort enthalten und verborgen sein mag: Du bahnst dir den Weg durch deine Lektüre wie durch ein dichtes Gehölz.
    Der Roman, den du liest, will dir eine korpulente, pralle, detailreiche Welt vorführen. Versunken in die Lektüre, treibst du das Messer mechanisch in die Tiefe des Bandes: Mit dem Lesen bist du noch nicht ans Ende des ersten Kapitels gelangt, mit dem Schneiden bist du schon viel weiter. Da plötzlich, mitten in einem entscheidenden Satz, während deine Aufmerksamkeit aufs höchste gespannt ist, blätterst du um und findest dich vor zwei leeren Seiten.
    Benommen starrst du auf das grausame Weiß wie auf eine Wunde, hoffst noch, es sei eine Blendung deiner Augen, die bloß einen Lichtfleck auf das Buch projiziert, und gleich werde das gestreifte Rechteck der schwarzen Lettern wieder hervortreten. Nein, es ist wirklich ein reines Weiß, das da auf beiden Seiten links und rechts herrscht. Du blätterst weiter und findest die beiden nächsten Seiten bedruckt, wie es sich gehört. Du blätterst hastig das ganze Buch durch: Je zwei Leerseiten wechseln mit zwei bedruckten - leer, bedruckt, leer, bedruckt, bis ans Ende: Man hat die Bogen versehentlich nur auf der einen Seite bedruckt, aber gefalzt und gebunden, als ob sie vollständig wären.
    Da hast du's, unversehens erweist sich dieser so prall mit Sinneseindrücken durchsetzte Roman als tief zerklüftet; bodenlose Abgründe tun sich auf, als hätte der Anspruch, des Lebens Fülle wiederzugeben, die Leere darunter enthüllt! Du versuchst, die Lücke zu überspringen, um den Faden beim nächsten Prosafragment wiederaufzunehmen, doch der Text erscheint dir zerfranst wie der Rand des aufgeschnittenen Blattes. Du findest dich nicht mehr zurecht, die Personen haben gewechselt, auch das Milieu ist anders, du verstehst nicht, wovon die Rede ist, stößt auf Namen, die dir nichts sagen: Heia, Kasimir. Dir kommt der Verdacht, es könnte sich um ein anderes Buch handeln, vielleicht um den wahren polnischen Roman Vor dem Weichbild von Malbork, und was du bisher gelesen hast, gehört womöglich wieder zu einem anderen, weiß der Teufel zu welchem.
    Du hattest dich ohnehin schon ein bißchen gewundert, die Namen klangen nicht gerade sehr polnisch: Brigd, Gritzvi. Du besitzt einen guten, sehr detaillierten Atlas, du nimmst ihn zur Hand und schaust im Verzeichnis der Ortsnamen nach: Petkwo müßte eine größere Stadt sein, der Aagd ist vielleicht ein Fluß oder See. Tatsächlich findest du beide in einem fernen nördlichen Tiefland, das in der Folge von Kriegen und Friedensverträgen abwechselnd zu verschiedenen Staaten gehörte. Etwa auch einmal zu Polen? Du ziehst ein Konversationslexikon zu Rate, einen Geschichtsatlas: Nein, mit Polen hat es nichts zu tun. Das Land war zwischen den beiden Weltkriegen sogar ein eigener Staat: Kimmerien, Hauptstadt Örkko, Nationalsprache kimmerisch, ein Zweig des botnisch-ugrischen Stammes. Doch der Artikel »Kimmerien« in deinem Lexikon schließt mit Sätzen, die nicht sehr tröstlich klingen: »Im Zuge der sukzessiven Gebietsaufteilungen unter ihre mächtigen Nachbarn verschwand die junge Nation bald wieder von der Landkarte; die angestammte Bevölkerung wurde zerstreut, der kimmerischen Kultur und Sprache war keine Entwicklung beschieden.«
    Ungeduldig brennst du darauf, mit der Leserin in Verbindung zu treten, um sie zu fragen, ob ihr Exemplar auch so ist wie das deine, um ihr deine Vermutungen, deine Entdeckungen mitzuteilen. Du suchst ihre Nummer in deinem Notizbuch, wo

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