Wenn ein Reisender in einer Winternacht
wo sich das Dunkel verdichtet gern weiterlesen.
»Ach Gott, wer weiß, wo das hingekommen sein mag. Alle Unterlagen in der Affäre Marana sind verschwunden. Seine Typoskripte, die Originale, ob kimbrisch, polnisch oder französisch. Er selbst verschwunden, alles verschwunden, von einem Tag auf den anderen. ..«
»Und hat nie wieder von sich hören lassen?«
»Doch, geschrieben hat er uns. Dauernd sind Briefe gekommen. Wilde Geschichten, die hinten und vorn nicht zusammenpassen. Ich will Ihnen gar nicht erst davon erzählen, ich weiß sowieso nicht, wie ich da durchsteigen soll. Man brauchte Stunden, um die ganze Korrespondenz zu lesen.«
»Könnte ich mal reinschauen?«
Angesichts deiner Entschlossenheit, der Sache jetzt auf den Grund zu gehen, ist Cavedagna schließlich bereit, dir aus dem Archiv die Akte »Dr. Marana, Ermes« holen zu lassen.
»Haben Sie ein bißchen Zeit? Gut, dann setzen Sie sich hierhin und lesen Sie. Und sagen Sie mir nachher, was Sie davon halten. Wer weiß, vielleicht entdecken Sie ja ein paar Zusammenhänge.«
Marana hat immer praktische Anlässe für seine Briefe an Cavedagna: die verspätete Abgabe seiner Übersetzungen zu begründen, die Zahlung von Vorschüssen anzumahnen, auf interessante ausländische Neuerscheinungen hinzuweisen. Doch zwischen diesen normalen Themen einer Geschäftskorrespondenz tauchen immer wieder Anspielungen auf Intrigen, Komplotte, Geheimnisse auf, und um diese Anspielungen zu erklären, oder um zu erklären, warum er darüber nicht mehr sagen will, ergeht sich Marana schließlich in immer wilderen und verworreneren Fabeleien.
Datiert sind die Briefe an Orten auf allen fünf Kontinenten, aber anscheinend werden sie nie der normalen Post anvertraut, sondern Gelegenheitsboten, die sie dann anderswo aufgeben, weshalb die Briefmarken auf den Umschlägen nicht den Herkunftsländern entsprechen. Auch die Chronologie ist unsicher: Manche Briefe nehmen Bezug auf vorangegangene Mitteilungen, die aber, dem Datum zufolge, erst später geschrieben wurden, andere versprechen nähere Erläuterungen im folgenden, aber diese finden sich dann auf eine Woche früher datierten Blättern.
»Cerro Negro«, anscheinend der Name eines entlegenen Kaffs in Südamerika, steht über den letzten Briefen, aber wo das genau liegt, ob hoch in den Anden oder tief im Dschungel des Orinoco, wird aus den widersprüchlichen Hinweisen auf die Landschaft nicht klar. Das Schreiben, das du vor Augen hast, sieht wie ein normaler Geschäftsbrief aus: Aber wie zum Teufel kommt ein Verlag für kimmerischsprachige Literatur in jenen Teil der Welt? Und wie kann er, wenn seine Publikationen für den begrenzten Markt der kimmerischen Emigranten in Nord- und Südamerika bestimmt sind, kimmerische Übersetzungen brandneuer Bücher der bekanntesten internationalen Autoren herausbringen und die Weltrechte an diesen Büchern haben, auch in der Originalsprache? Tatsache ist jedenfalls, daß Ermes Marana, der offenbar zum Manager jenes Verlages avanciert ist, dem sehr geehrten Herrn Dr. Cavedagna hier die Option auf den neuen und lang erwarteten Roman In einem Netz von Linien, die sich verknoten des berühmten irischen Schriftstellers Silas Flannery anbietet.
Ein anderer Brief, gleichfalls aus Cerro Negro, ist eher im Ton einer inspirierten Beschwörung gehalten: Angelehnt - so scheint es - an eine lokale Legende erzählt er von einem alten Indio, genannt »Vater der Erzählungen«, einem blinden Greis, hochbetagt wie Methusalem und Analphabet, der ununterbrochen Geschichten erzählt aus Ländern und Zeiten, die ihm völlig unbekannt sind. Das Phänomen hat Expeditionen von Anthropologen und Parapsychologen auf den Plan gerufen: Man hat herausgefunden, daß viele Romane weltberühmter Autoren mehrere Jahre vor ihrem Erscheinen von der heiseren Stimme des »Vaters der Erzählungen« Wort für Wort deklamiert worden sind. Manche halten den greisen Indio für den Urquell allen Erzählstoffes, für jenes primordiale Magma, aus dem sich die individuellen Gestalten und Äußerungen jedes Schriftstellers herleiten; andere halten ihn für einen Seher, der sich durch den Verzehr halluzinogener Pilze mit dem Innenleben der stärksten visionären Temperamente in Verbindung zu setzen und ihre Psi-Wellen aufzufangen vermag; wieder andere sehen in ihm die Reinkarnation Homers, des Autors von Tausendundeiner Nacht, des Autors von Popol Vuh sowie der Autoren Alexandre Dumas und James Joyce; dem wird allerdings von
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