Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
Vom Netzwerk:
jedesmal wenn ich wieder was von ihr höre, werde ich unruhig. Ich weiß nicht warum, aber beim Gedanken an die Kinder krieg ich irgendwie immer ein schlechtes Gewissen.
    Na ja, so erfuhr ich, daß Sibylle in einer Boite an der Place Clichy eine Nummer mit Alligatoren macht. Im ersten Moment war ich so schockiert, daß ich gar nicht nach weiteren Einzelheiten fragte. Ich wußte zwar, daß sie in Nachtklubs auftrat, aber sich öffentlich mit einem Krokodil zu produzieren, schien mir denn doch das Letzte, was sich ein Vater für seine einzige Tochter wünschen kann; jedenfalls einer wie ich, der eine protestantische Erziehung genossen hat.
    »Wie heißt das Lokal?« frag ich, aschfahl. »Das würd ich mir gern mal selber ansehen.«
    Er reicht mir ein Werbekärtchen, und sofort läuft mir der kalte Schweiß über den Rücken, denn dieser Name, »Neues Titania«, kommt mir bekannt vor, allzu bekannt, auch wenn im Zusammenhang mit Erinnerungen aus einem anderen Teil der Welt.
    »Und wer ist der Inhaber?« will ich wissen. »Ja, der Besitzer,
    der Boß?«
    »Ach, Sie meinen Madame Tatarescu...«, sagt er und hebt den Zinkzuber auf, um seine Brat wieder fortzutragen.
    Fassungslos starrte ich in das grüne Gewimmel von Schuppen, Klauen, Schwänzen und aufgerissenen Mäulern, mir war, als hätte ich eins über den Schädel bekommen, in meinen Ohren war nur noch ein dunkles Sausen, ein Dröhnen, die Posaune des Jenseits, kaum daß ich den Namen der Frau gehört hatte, dieser Frau, deren zerstörerischem Einfluß ich Sibylle glücklich entzogen zu haben glaubte, indem ich unsere Spuren über zwei Ozeane hinweg verwischte, um endlich dem Mädel und mir ein stilles, unauffälliges Dasein zu schaffen. Alles umsonst:
    Vlada war ihrer Tochter gefolgt und hatte mich nun durch Sibylle erneut in ihrer Gewalt, sie mit ihrer einzigartigen Fähigkeit, in mir die wildeste Abneigung und die obskurste Begierde zu wecken. Schon sandte sie mir eine Botschaft, in der ich sie wiedererkannte: Ja, dieses wimmelnde Reptiliengezücht sollte mich daran erinnern, daß ihr einziges Lebenselement das Böse war und die Welt ein Sumpf voller Krokodile, dem ich niemals entkommen würde.
    Genauso schaute ich jetzt von der Dachterrasse, über die Brüstung gebeugt, hinunter in jenen leprösen Hof. Der Himmel wurde schon hell, da drunten aber herrschte noch tiefes Dunkel, und nur mit Mühe erkannte ich den zerlaufenen Fleck, in den sich Jojo verwandelt hatte, nachdem er durch die Leere gesegelt war mit wehenden Rockschößen, die wie Flügel flatterten, und sich sämtliche Knochen zerschlagen hatte mit einem Aufklatsch, der wie der Knall einer Schußwaffe klang.
    Den Plastiksack hatte ich noch in der Hand. Wir hätten ihn einfach dalassen können, aber Bernadette meinte, sie seien imstande und würden die Chose rekonstruieren, wenn sie ihn fänden, und so wär's besser, ihn mitzunehmen und irgendwo verschwinden zu lassen.
    Im Parterre standen drei Männer vor der Fahrstuhltür, sie hatten die Hände in den Taschen. »Hallo, Bernadette!« Und sie: »Hallo!«
    Es gefiel mir nicht, daß sie die Typen kannte; zumal mir die Art ihrer Kleidung, obwohl sie moderner war als bei Jojo, eine gewisse Familienähnlichkeit verriet.
    »Was hast du da in dem Sack, laß mal sehen«, sagt der Größte zu mir.
    »Nichts. Sieh nach: Er ist leer«, sag ich ruhig. Er fährt mit der Hand hinein. »Und was ist das?« Er zieht einen schwarzen Lackschuh mit weißer Kappe heraus.

VI
    Hier enden die fotokopierten Seiten, aber nun willst du unbedingt weiterlesen. Irgendwo muß doch das vollständige Original zu finden sein. Du schaust suchend umher, verzagst aber gleich: in diesem Lektorenzimmer erscheinen die Bücher in Form von Rohmaterial, Ersatzteilen und Getrieben zum Auseinandernehmen und Wiederzusammenbauen. Jetzt begreifst du Ludmillas Weigerung, in den Verlag mitzukommen; schon fürchtest du, ebenfalls »auf die andere Seite« übergegangen zu sein und jenes privilegierte Verhältnis zum Buch verloren zu haben, das nur der Leser besitzt: die Fähigkeit, was da im Buche geschrieben steht, als etwas Fertiges zu betrachten, etwas Definitives, bei dem nichts mehr anzufügen oder zu streichen ist. Tröstlich erscheint dir jedoch, daß selbst Cavedagna noch immer so vertrauensvoll an die Möglichkeit eines naiven Lesens glaubt, auch hier mittendrin.
    Gerade tritt er wieder zur Tür herein, der geplagte Lektor. Rasch, pack ihn am Ärmel und sag ihm, du möchtest Schaut in die Tiefe,

Weitere Kostenlose Bücher