Wenn ein Reisender in einer Winternacht
wie eine Auster in ihrem Gehäuse. Der Schatten eines anderen Mannes, der hier wahrscheinlich, ja sicher umgeht, wird damit wenn nicht ausgelöscht, so doch an den Rand gedrängt. Man liest für sich allein, auch wenn man zu zweit ist. Allerdings: Was suchst du dann hier? Willst du in ihre Muschelschale eindringen, dich einschleichen zwischen die Seiten der Bücher, die sie liest? Oder bleibt das Verhältnis von Leser und Leserin zwangsläufig das zweier separater Muscheln, die nicht anders zu kommunizieren vermögen als nur durch gelegentliche Vergleiche ihrer je exklusiven Erfahrungen?
Du hast das Buch bei dir, das du vorhin im Cafe angefangen hattest und dringend weiterlesen willst, um es anschließend ihr zu geben und wieder mit ihr zu kommunizieren durch den Kanal der Worte eines anderen, die aber gerade weil von einer fremden Stimme gesprochen, von der jenes stummen Niemand, der nur aus Druckerschwärze und typographischen Löchern besteht, durchaus die Euren werden können, eine Sprache, ein Kode zwischen euch, ein Mittel, um Signale zwischen euch auszutauschen und euch zu erkennen.
Ein Schlüssel dreht sich im Schloß. Du schweigst, als wolltest du sie überraschen, als wolltest du ihr und dir selbst bestätigen, daß dein Hiersein etwas ganz Natürliches ist. Aber der Schritt ist nicht ihrer. Langsam manifestiert sich im Eingang die Gestalt eines Mannes, du siehst seinen Schatten hinter dem Vorhang, eine Lederjacke, Schritte, die mit der Örtlichkeit vertraut sind, aber zögern wie von jemandem, der etwas sucht. Du erkennst ihn. Es ist Irnerio.
Du mußt sofort entscheiden, wie du dich verhalten sollst. Dein Ärger, ihn hier einfach in ihre Wohnung hereinspazieren zu sehen als wär's die seine, ist stärker als dein Unbehagen, hier quasi versteckt zu sein. Außerdem wußtest du ja, daß Ludmillas Wohnung für ihre Freunde offensteht: Der Schlüssel liegt unter der Matte. Seit du hier eingedrungen bist, war dir ständig, als huschten gesichtslose Schatten umher. Irnerio ist nun wenigstens ein bekanntes Phantom. Wie du für ihn.
»Ach, du bist hier.« Er nimmt dich ohne Erstaunen zur Kenntnis. Doch diese Natürlichkeit, die du eben noch selber angestrebt hattest, macht dich jetzt nicht mehr froh.
»Ludmilla ist nicht zu Hause«, sagst du, um wenigstens deinen Informationsvorsprung zu behaupten, wenn nicht gar deinen Vorsprung in der Besetzung des Territoriums.
»Ich weiß«, erwidert er ungerührt. Er sucht herum, wühlt zwischen den Büchern.
»Kann ich dir irgendwie helfen?« fragst du, wie um ihn zu provozieren.
»Ich suche ein Buch«, sagt Irnerio.
»Ich denke, du liest keine Bücher!«
»Nicht zum Lesen: zum Machen. Ich mache Sachen mit Büchern. Objekte, Werke, ja, Kunstwerke: Statuen, Kompositionen, nenn's wie du willst. Ich hatte auch schon mal 'ne Ausstellung. Ich fixiere die Bücher mit Harz, und dann bleiben sie so. Zugeklappt oder aufgeschlagen, wie sie grad sind. Aber ich forme sie auch, bearbeite sie, mache Löcher rein und so. Ist ein prima Werkstoff, das Buch, läßt sich 'ne Menge draus machen.«
»Und Ludmilla ist einverstanden?«
»Sie mag meine Sachen. Gibt mir Ratschläge. Die Kritiker sagen, es wäre bedeutend, was ich mache. Jetzt tun sie meine Werke zusammen in ein Buch. Sie haben mich zu Doktor Cavedagna geschleppt. Es wird ein Buch mit Fotos von allen meinen Büchern. Wenn es gedruckt ist, nehm ich's und mach daraus wieder ein Werk, viele Werke. Die tun sie dann wieder in ein neues Buch, und so weiter.«
»Ich meinte, ob Ludmilla damit einverstanden ist, daß du ihr Bücher wegholst. «
»Sie hat doch so viele. Manchmal gibt sie mir extra welche zum Bearbeiten, Bücher, mit denen sie nichts anfangen kann. Aber nicht daß mir jedes Buch recht wäre. Mir kommt ein Werk nur, wenn ich's fühle. Bei manchen Büchern hab ich gleich 'ne Idee, was ich damit machen könnte, bei anderen passiert überhaupt nichts. Manchmal hab ich 'ne Idee, kann sie aber nicht verwirklichen, bis ich das richtige Buch dafür finde.« Er wühlt in einem Regal, wiegt ein Buch in der Hand, prüft den Rücken und den Beschnitt, legt es weg. »Manche Bücher sind mir auf Anhieb sympathisch und andere kann ich nicht ausstehen, aber grad die kommen mir dauernd zwischen die Finger.«
Und schon erweist sich die Große Büchermauer, von der du hofftest, sie würde Ludmilla vor diesem barbarischen Eindringling schützen, als ein Kinderspielzeug, das er mit größter Selbstverständlichkeit abräumt. Du lachst
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