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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Italo Calvino
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bedeuten, daß du keine symbolischen Substitute brauchst für deinen natürlichen Hang, dich mit anderen zu beschäftigen, an ihren Geschichten teilzunehmen, im Leben, in Büchern.
     
    Schauen wir uns deine Bücher an. Als erstes fällt auf, jedenfalls beim Anblick derer, die du am sichtbarsten hingestellt hast, daß Bücher dir zur unmittelbaren Lektüre dienen, nicht zu Studienzwecken oder zum Nachschlagen, auch nicht zum Aufbau einer wie immer geordneten Bibliothek. Mag sein, daß du ein paarmal versucht hast, deinen Regalen einen Anschein von Ordnung zu geben, aber jeder Klassifizierungsversuch wurde alsbald von heterogenen Neuzugängen wieder zunichte gemacht. Das tragende Ordnungsprinzip, nach dem die Bände aufgereiht sind, bleibt daher neben dem ihrer Größe noch immer das ihrer Chronologie, das heißt die zeitliche Reihenfolge ihres Erwerbs. Trotzdem weißt du bei allen, wo du sie finden kannst, es sind ja zum Glück auch nicht allzu viele (andere Regale hast du vermutlich in anderen Wohnungen stehengelassen, in anderen Phasen deines Lebens), und wahrscheinlich suchst du gar nicht so oft nach einem schon gelesenen Buch.
    Denn offenbar bist du keine Leserin, Die Wiederzulesen Pflegt. Du erinnerst dich sehr genau an alles, was du einmal gelesen hast (dies war einer der ersten Züge, die du von dir zu erkennen gabst); vielleicht ist für dich jedes Buch identisch mit seiner Lektüre in einem bestimmten Augenblick, als du es ein für allemal gelesen hast. Und wie du sie dir im Gedächtnis bewahrst, so möchtest du deine Bücher auch als Gegenstände behalten und um dich haben.
    Gleichwohl ist unter deinen Büchern, in diesem Ensemble, das keine Bibliothek darstellt, ein toter oder schlafender Teil erkennbar: das Lager der beiseitegelegten Bände, die du gelesen hast und kaum jemals wiederlesen wirst, oder die du nicht gelesen hast und niemals lesen wirst, aber dennoch behältst (und abstaubst) - und daneben ein lebendiger Teil: die Bücher, die du gerade liest oder die du bald lesen willst oder von denen du dich noch nicht lösen kannst oder die du gern um dich hast. Im Unterschied zu den Küchenvorräten ist es hier der lebendige, zum unmittelbaren Verbrauch bestimmte Teil, der mehr über dich aussagt. Manche Bände liegen im Zimmer herum, einige aufgeschlagen, andere mit improvisierten Lesezeichen oder mit eingeknickten Seiten markiert: Du hast offenbar die Gewohnheit, mehrere Bücher gleichzeitig zu lesen, dir für die verschiedenen Stunden des Tages verschiedene Lektüren zu wählen. Auch für die verschiedenen Ecken deiner immerhin doch recht kleinen Wohnung: Es gibt Bücher für deinen Nachttisch, andere finden ihren Platz neben dem Sessel, in der Küche oder im Bad.
    Dies könnte ein wichtiger Zug sein zur Ergänzung deines Porträts: Dein Geist hat innere Wände, mit denen du verschiedene Zeiten voneinander abtrennen kannst, um darin je nachdem innezuhalten oder vorwärtszustürmen und dich abwechselnd auf verschiedene Kanäle zu konzentrieren. Genügt das bereits, um sagen zu können, daß du gern mehrere Leben gleichzeitig leben würdest? Oder sie gar schon lebst? Daß du dein Leben mit einer Person oder in einer bestimmten Umgebung abtrennst von deinem Leben mit anderen oder woanders? Daß du bei jeder neuen Erfahrung von vornherein eine Enttäuschung mit einkalkulierst, die nicht kompensiert werden kann, es sei denn durch die Summe aller Enttäuschungen?
     
    Leser, spitz die Ohren! Dir wird ein Verdacht eingeflüstert, um deiner noch uneingestandenen Eifersucht Nahrung zu geben: Ludmilla, Leserin mehrerer Bücher auf einmal, treibt womöglich, um nicht überrumpelt zu werden von der Enttäuschung, die jede Geschichte ihr bringen kann, zugleich noch andere Geschichten voran. ..
    (Glaub ja nicht, Leser, daß dieses Buch dich aus den Augen verliert! Das zur Leserin übergegangene Du kann jeden Moment zu dir zurückkehren. Du bleibst jederzeit eins der möglichen Du. Wer wollte es auch wagen, dich zum Verlust des Du zu verdammen? Eine ebenso furchtbare Katastrophe wie der Verlust des Ich. Soll eine Rede in der zweiten Person zu einem Roman werden, so bedarf es zumindest zweier verschiedener und zusammenwirkender Du, die sich deutlich abheben von der Menge der gewöhnlichen Er und Sie, im Singular und im Plural.)
    Immerhin kommt dir der Anblick so vieler Bücher in Ludmillas Wohnung beruhigend vor. Lesen heißt Alleinsein. Die Leserin erscheint dir beschützt von den Schalen des aufgeschlagenen Buches

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