Wenn ein Reisender in einer Winternacht
allem gewinnt man von dir durch Inspektion deiner Küche das Bild einer extrovertierten, luziden, sinnlichen und methodischen Frau, die ihren Sinn fürs Praktische in den Dienst ihrer Phantasie zu stellen weiß. Könnte sich jemand beim bloßen Anblick deiner Küche in dich verlieben? Wer weiß, vielleicht der ohnehin bereits positiv eingestimmte Leser.
Er setzt seine Inspektion deiner Wohnung fort, der Leser. Du umgibst dich mit einem Haufen Kram: Fächer, Postkarten, Fläschchen stehen herum, Halskettchen hängen an den Wänden. Doch aus der Nähe betrachtet erweist sich jeder Gegenstand als etwas Besonderes, irgendwie Überraschendes. Dein Verhältnis zu den Dingen ist persönlich und selektiv: Nur was du als dein empfindest, wird dein. Es ist ein Verhältnis zur greifbaren Körperlichkeit der Dinge, nicht zu einer intellektuellen oder affektiven Idee, die das unmittelbare Anfassen und Betrachten ersetzt. Und hast du die Dinge erst einmal erworben und mit deinem Stempel geprägt, so verlieren sie alle Zufälligkeit und gewinnen eine Bedeutung wie Teile eines Diskurses, wie eine Erinnerung aus Signalen und Emblemen. Bist du possessiv? Vielleicht sind noch nicht genügend Anhaltspunkte beisammen, um das zu beantworten. Einstweilen kann man nur sagen, daß du possessiv dir selbst gegenüber bist: Du hängst dich an Zeichen, in denen du etwas von dir erkennst, fürchtend, mit ihnen dich selbst zu verlieren.
In einer Wandecke hängen eng beieinander gerahmte Fotografien in großer Zahl. Wen stellen sie dar? Dich in verschiedenen Altersstufen und viele andere Leute, Männer und Frauen, einige Fotos sind auch sehr alt, vergilbt wie aus einem Familienalbum; doch alle zusammen scheinen sie nicht so sehr der Erinnerung an bestimmte Personen zu dienen als vielmehr einer Montage der Schichten des Daseins. Die Rahmen sind alle verschieden, blumige Jugendstilformen in Silber, Kupfer, Email, Schildpatt, Leder, geschnitztem Holz; sie könnten die Absicht ausdrücken, jene Fragmente gelebten Lebens aufzuwerten, aber sie könnten auch nur eine Sammlung von alten Rahmen sein mit den Fotos als bloßen Füllungen, und tatsächlich enthalten einige Rahmen Bilder aus Zeitungen, einer umrahmt eine Seite aus einem alten unleserlichen Brief, ein anderer ist leer.
Sonst hängt nichts an der Wand, auch keinerlei Möbel stehen davor. So ungefähr ist es überall in der Wohnung: hier kahle Wände, dort übervolle, als hättest du ein Bedürfnis nach Konzentration der Zeichen in einer Art Engschrift mit einer Leere ringsum, in der sich das Auge wieder erholen und ausruhen kann.
Auch die Verteilung der Möbel und dessen, was darauf steht, ist nirgendwo symmetrisch. Die Ordnung, die du anstrebst (der verfügbare Raum ist begrenzt, aber man spürt ein gewisses Bemühen, ihn möglichst gut auszunutzen, um ihn größer erscheinen zu lassen), ist keine aufgezwungene Schematisierung des Ganzen, sondern eine innere Übereinstimmung zwischen den vorhandenen Dingen.
Was soll das nun heißen, bist du ordentlich oder unordentlich? Auf so apodiktisch gestellte Fragen gibt deine Wohnung keine klaren Antworten. Eine gewisse Ordnungsvorstellung hast du schon, sogar eine anspruchsvolle, aber es liegt dir fern, sie in der Praxis methodisch durchzusetzen. Man sieht, daß dein Interesse am Häuslichen wechselhaft ist, je nach den Schwierigkeiten und Belastungen deiner Tage, dem Auf und Ab deiner Stimmungen.
Bist du depressiv oder euphorisch? Die Wohnung scheint klug von deinen Momenten der Hochstimmung profitiert zu haben, um dich in deinen Momenten der Niedergeschlagenheit wohnlich empfangen zu können.
Bist du wahrhaft gastfreundlich, oder ist deine Gewohnheit, Bekannte einfach ins Haus zu lassen, ein Zeichen von Gleichgültigkeit? Der Leser sucht nach einem bequemen Sitzplatz, um zu lesen, ohne die klar für dich reservierten Plätze zu okkupieren; es scheint, daß man sich als Gast bei dir durchaus wohl fühlen kann, sofern man sich deinen Regeln anzupassen weiß.
Was noch? Die Topfpflanzen haben anscheinend seit mehreren Tagen kein Wasser bekommen; aber vielleicht hast du dir auch bewußt solche ausgesucht, die nicht viel Pflege brauchen. Im übrigen gibt es hier nirgendwo Spuren von Hunden, Katzen oder Vögeln: Du bist eine Frau, die nicht dazu neigt, ihre Verantwortlichkeiten unnötig zu vervielfachen; das kann ein Zeichen von Egoismus sein, aber auch von Konzentration auf andere, weniger äußerliche Bedürfnisse; es kann schließlich auch
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