Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
Vom Netzwerk:
Wäsche, dienstags wurde gebügelt, und so weiter, bis man sonntags zur Kirche ging und sich aus ruhte. Alles war vorhersagbar und geordnet.
    Ich hatte viele häusliche Pflichten und Aufgaben, von denen meine Schularbeiten das Geringste waren. Obwohl ich in der Schule sehr gute Leistungen zeigte, interessierten sich meine Eltern kaum für meine Noten. Ich brachte, wie es sich gehörte, mein Zeugnis nach Hause, auf dem immer glatte Einsen standen, und legte
es auf den Küchentisch. Beide Eltern äußerten sich besorgt, dass ich so glänzende Noten hatte. Mein Vater pflegte Dinge zu sagen wie: »Ich hoffe, dass du dir nichts einbildest. Und damit es klar ist, deine Lehrer wissen auch nicht alles.« Meine Mutter sagte, ich solle mich nicht so ins Zeug legen und manchmal lieber »Ball spielen gehen«. Die häuslichen Pflichten waren ihnen wichtiger als die Schularbeiten.
    Beide Eltern glaubten an gründliche praktische Un terweisungen, vom Gemüseanbau bis hin zum Fußbodenscheuern. Jede Aufgabe, die ich ausführte, wurde begutachtet und kommentiert. Ungefähr ab meinem zwölften Lebensjahr wurde von mir auch erwartet, dass ich Geld verdiente, um zum Familieneinkommen beizutragen. Da es in unserer unmittelbaren Umgebung wenig Möglichkeiten zum Babysitten gab, ging ich als junges Mädchen bügeln und mähte in der Nachbarschaft den Rasen. Zu meiner Erziehung gehörte, dass ich versohlt wurde (gewöhnlich von meiner Mutter - zögernd und förmlich, aber ernsthaft), wenn ich wirklich etwas angestellt hatte, oder ausgeschimpft wurde und auf Dinge verzichten musste, wenn ich zu meinen Eltern frech war oder ungebeten meine Meinung äußerte.
    Meine Eltern lehrten mich auch, was richtig und falsch war, und sorgten dafür, dass ich die Zehn Gebote auswendig lernte und sie verstand. Tatsächlich war ich äußerst bedacht darauf, in den Augen Gottes gut dazustehen, der, wie ich glaubte, alle meine Taten sah. Auf einer Skala der Gewissenhaftigkeit von eins bis zehn hätte ich bei zehn plus gestanden. Vom Typ her war ich ein Kind, das über das Elend und die Ungerechtigkeiten dieser Welt nachsann und weder zum einen noch zum anderen beitragen wollte. Daher gehörte ich nicht
immer zu den beliebtesten Kindern, aber ich hatte viele Freunde, auf die ich zählen konnte. Ich konnte auch auf das Gewissen meiner Freunde zählen, die wie ich mit den Zehn Geboten oder der Goldenen Regel aufwuchsen. Wenn es nötig war, drückten meine Freunde und ich jedoch im Angesicht der Schwierigkeiten des Lebens ein Auge zu. Als eine meiner besten Freundinnen in der Highschool nach dem Tod ihrer Mutter plötzlich zu einer zwanghaften Lügnerin wurde, waren wir mit ihr sehr nachsichtig. Uns war klar, dass sie mit großer Trauer und Depressionen fertig werden musste, auch wenn wir dieses Wort nicht kannten. Wir errieten, dass ihre Lügen etwas mit dem Versuch zu tun hatten, sich besser zu fühlen.
    In meiner Kindheit und Jugend ging jeder, den ich kannte, zur Kirche oder Synagoge und hielt sich an die gesellschaftlichen und ethischen Regeln der Religion. Meine Eltern, die tiefreligiös und sehr einfache Menschen waren, erklärten das Elend der Welt oft mit philosophischen Sprüchen wie: »Gott in seiner Güte hat diesen Kelch an uns vorübergehen lassen« oder »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Ich fühlte mich durch diese Weisheiten getröstet. Als Teil der Arbeiterschicht waren wir von Familien umgeben, die noch mehr als wir damit rangen, sich über Wasser zu halten. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich immer genug zu essen und anständige Kleider hatte. Meine Eltern opferten auch einen bestimmten Prozentsatz ihres schmalen Einkommens für wohltätige Zwecke und waren sehr großzügig zu jedem, der an unsere Tür kam und um Hilfe bat. Sie bestanden darauf, dass auch ich großzügig war und einen Teil meines Taschen geldes spendete.

    Auch wenn diese Gewohnheiten und Formen hart klingen mögen, erlebte ich sie als völlig gerecht und vorhersagbar. Die emotionalen Probleme, mit denen ich in meiner Kindheit konfrontiert war, hatten nichts mit den Ansprüchen meiner Eltern an mich zu tun, sondern damit, dass meine Eltern sich stritten. Sie stritten offen und sehr aggressiv, auch wenn ich keine körperliche Gewalt zwischen ihnen erlebte. Ich hatte oft sehr viel Angst während ihrer Streitereien: Angst, dass sie aufeinander losgehen könnten, nicht auf mich. Bei Streitigkeiten meiner Tante und meines Onkels, die nebenan

Weitere Kostenlose Bücher