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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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Mutterleib verlassen haben. 16 Zwischen der Empfängnis und ungefähr den ersten anderthalb Lebensjahren setzt die Biologie eines Kindes normale Entwicklungsprozesse in Gang, durch die sich das menschliche Gehirn mithilfe von Beziehungen (auch schon im Mutterleib) entfaltet. Wenn in dieser Frühphase keine Anomalie auftritt, können die Kräfte der Natur relativ unge hindert wirken. Doch selbst in diesem Stadium hängt das Kind auch schon in großem Umfang von Inter aktionen mit anderen ab, um außer Nahrung ein Empfinden für sich selbst und seinen Wert zu bekommen.
    In den ersten 18 Monaten nach der Geburt kommt, während sich das Kind innerlich entfaltet, das soziale Drama der Familie ins Spiel - darunter Geschwisterneid und Geschwisterrivalität sowie die Lebens umstände und Wünsche der Eltern. Auch wenn das jüngste Familienmitglied noch nichts davon weiß, ist ihm bereits eine Rolle zugewiesen. Das Familienleben
gleicht einem Theaterstück, in dem jedes Mitglied seine Rolle spielt, auch der Mensch, der zum ersten Mal die Bühne betritt. Die Vorstellungen, die andere Familienmitglieder von uns haben, unser Platz in der Geschwisterordnung und der geschichtliche Augenblick diktieren Aspekte unserer Identität, die uns formen, lange bevor wir selbst aktiv werden. 17 Allein die Zeit, in die wir hineingeboren werden, hat weitaus mehr Bedeutung, als wir glauben. Die Psychologin Jean Twenge fand in ihrer Mehrgenerationen-Untersuchung von 1,3 Millionen jungen Amerikanern heraus, dass » der Zeitpunkt der Geburt mehr Einfluss auf unsere Persönlichkeit hat als die Familie, in der wir groß werden. Mit den Worten eines hellsichtigen arabischen Sprichworts: ›Menschen ähneln den Zeitläuften mehr als ihren Vätern.‹« 18
    Etwa im Alter von drei Jahren erlangt ein kleines Kind die definitive Erfahrung, ein Individuum zu sein, das getrennt von anderen ist - es steckt »hier im Körper«, während die Welt und andere »da draußen« sind. Es ist sehr wichtig, daran zu denken, dass das Gefühl, ein Individuum zu sein, auf Entwicklung beruht; es ist uns nicht angeboren. 19 Je mehr die Eltern und andere Menschen das Getrenntsein oder die Besonderheit eines Kindes verstärken, desto mehr wird das Kind Gewohnheiten ausbilden, die die Überzeugung nähren »Ich bin anders als andere«, »Ich bin besser als andere« oder »Ich werde eines Tages berühmt sein«. In einigen Gesellschaften, darunter vielen asiatischen, werden Kinder stark motiviert, sich mit ihrer Familie, ihrer Gemeinschaft oder sogar ihrer Gesellschaft zu identifizieren statt nur mit ihrer individuellen Identität. 20 Es geht nichts an Autonomie verloren, wenn die Identität sich
mit anderen verbindet, solange Kinder die notwendigen Fähigkeiten entwickeln, Entscheidungen zu treffen und eigenständig zu handeln.

Die menschliche Identität
    Zwischen drei und ungefähr sechs oder sieben Jahren bilden sich bei Kindern Fähigkeiten heraus, durch die sie lernen, das zu begreifen, was wir Realität nennen: Zeit, Raum und Kausalbeziehungen (beispielsweise: Wenn du dies tust, geschieht jenes). Das Kind betritt jetzt die Welt der Erwachsenen, in der es »gestern, heute und morgen« gibt und »der Himmel oben, die Erde unten ist«. Zunächst sind diese neuen Perspek tiven unsicher, aber sie reifen und werden verlässlich. Wie Jean Piaget und seine Nachfolger gezeigt haben, erlaubt es dieser neue Bezugsrahmen allen Kindern, eine »praktische Intelligenz« zu entwickeln. Nach dem sechsten oder siebten Lebensjahr können sich Kinder gewöhnlich ziemlich sicher in der Realität der Erwachsenenwelt bewegen. 21 Deshalb betrachtete man das siebte Lebensjahr ursprünglich auch als den Beginn der Vernunft und Verantwortung im Leben eines Kindes. 22
    Ein außerordentlich wichtiger Aspekt dieser frühen Entwicklung ist die Beherrschung der Sprache - die Fähigkeit, mit uns und anderen im Hinblick auf unsere Handlungen zu sprechen. 23 Die ersten Geschichten, die Kinder gern erzählen oder erzählt bekommen, handeln von ihnen selbst oder anderen Kindern. Am liebsten hören sie Geschichten von dem, was Kinder tun und wie sie Dinge verändern. Sie lieben es, das Gefühl zu erproben und auszudrücken, ein Macher und Beweger
zu sein. Diese Art von Vorstellung oder Fantasiespiel bildet einen Schlüssel für die keimende Autonomie des Kindes. »Ich kann etwas bewegen«, ist ein Gedanke, der uns fortan alle hoch motiviert, während unsere Wünsche zukunftsorientierter und komplexer

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