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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rapp
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Bratapfelsaft spritzt ihm ins Gesicht. Italienische Flüche begleiten seinen Abgang.
    »An Epiphanias wird nicht geflucht!«, brüllt ihm Beck hinterher.
    Die Stimmung kühlt merklich ab und ich verkrampf mich wieder, aber Kolja findet die richtigen Worte für den Chef: »Wir machen das schon«, beruhigt er ihn. »Wir haben gepackt. Wir wissen, wann der Bus fährt. Und die Prüfung schaffen wir auch.«
    Beinahe hätten wir es vermasselt. Ich sehe die Hand vor Augen nicht. Kurz nach sechs in der Früh schlittern wir drei einsamen Gestalten durch die dörfliche Stille zur Haltestelle und suchen Schutz hinter einem vereisten Strauch. Polarwinde pfeifen durch Lauterstetten. Wir suchen körperliche Nähe, was sonst nicht unser Stil ist. Die sensationellen Ausnahmen geistern in scharfen Bildern vor meinem inneren Auge, und als sich Paolo an mich presst, jagt mir ein schmerzhaftes Ziehen durch die Wirbelsäule. Paolo verhakt einen derart verlangenden Sekundenblick in meinen, als hätte unsere Berührung bei ihm die gleichen Gefühle geweckt.
    In dem Moment kommt der Bus und fährt »Halt! Stopp!« an uns vorbei! Vielleicht hat der Fahrer uns ja wirklich nicht gesehen. Wir rasen hinterher. Fünfzig Meter weiter vorne an der Kreuzung nach Rastkirch macht er die Tür auf. Unser keuchender Atem beschlägt sofort die Scheiben. Paolo bibbert vor Kälte und zeigt Züge von Verbitterung, weil er sich nie warm genug anzieht. Er findet sich cool mit seinen langen Beinen in dünnen Hosen und mit einer dünnen Jacke drüber. Ich schlottere vor Angst wie meistens. In Rastkirch nehmen wir die Bahn in die Kreisstadt. Nach anderthalb Stunden verpennter Fahrzeit und zwanzig Minuten Wartezeit haben wir unser Ziel erreicht.
    Der Vorbereitungskurs für die Schulfremdenprüfung findet an der Volkshochschule in Bad Stockbach statt. Wir sind ein kleiner, überschaubarer Haufen. Nur vier Mitschüler, und die sind allesamt älter als wir und jobben nach dem Unterricht.
    »Stellt euch bitte auf Englisch vor. Wir üben heutemonologisches und dialogisches Sprechen.« Frau Huber lächelt mich aufmunternd an.
    Okay. »I’m Tilly Krah«, palavere ich los und erzähle, dass wir in Finnland einen Eispalast gebaut haben. Kolja und Paolo zeigen auf ihren Handys den Mitschülern Fotos. Es macht Spaß. Unser Englisch kommt dank unsrer finnischen Praxis durchaus flüssig und verständlich daher. In der dialogischen Übung interviewe ich Frau Huber zu unserem Kurs. Jetzt erst geht mir die Tragweite unserer Möglichkeiten auf, denn der Vorbereitungskurs ist freiwillig! Der Chef oder das Jugendamt bezahlt ihn. Die mündliche und schriftliche Prüfung ist im Mai hier in der Volkshochschule. Frau Huber und ein weiterer Prüfer nehmen sie vor. So oder so, egal ob wir den Vorbereitungskurs machen oder nicht, können wir uns im März zur Prüfung anmelden, solange wir nicht auf eine reguläre Schule gehen. Es ist nicht zwingend notwendig, uns mitten in der Nacht gegen den Wind zu stemmen. Wir können im Bett bleiben, wenn wir wollen. These are very good news!
    »Kann ich die Liste mit den Unterrichtsmaterialien kriegen?«, frage ich.
    »Na klar. Es ist gut, wenn ihr selbstständig arbeitet.«
    Unsere Englischkenntnisse sind bei Frau Huber gut angekommen.
    »Wahrscheinlich muss ich in Deutsch und Mathe ziemlich viel nachholen. Das kann ich besser zu Hause. Tilly und Kolja bringen mir dann die aktuellen Sachen bei«, sagt Paolo, der asoziale Dreckskerl, und vermasselt mir damit meine Taktik.
    »Zum Glück kapiert er relativ schnell«, sagt Kolja zuFrau Huber. »Wir werden uns abwechseln müssen, weil Tilly und ich auch nacharbeiten müssen.«
    Er ärgert sich genauso wie ich. Und obwohl ich im Großen und Ganzen mit dem Schulmodell einverstanden bin, hab ich schlechte Laune. Grund: Paolo. Abgesehen von dem Blickwechsel heute Morgen weicht er mir permanent aus und gibt mir das Gefühl, dass ich ungenügend und daneben bin und es auch immer bleiben werde.
    Am Bahnhof in Rastkirch setzt er sich ab. »Ich treff mich mit Boo. Bis später.« Weg ist er.
    »Wer ist Boo?«, frag ich.
    Kolja: »Boo.«
    »Der Kiffer?«
    Kolja ist einsilbig. »Yo.«
    »Kolja!« Auf der anderen Bahnhofsplatzseite hüpft ein Mädchen vorm Imbissstand auf und ab. »Komm rüber!«
    Sie winkt heftig, was nicht nötig wäre.
    »Servus.«
    Ich steige allein in den Bus nach Lauterstetten ein. Bis auf zwei ältere Männer und fünf Frauen, vollgepackte Einkaufstrolleys und zwei Rollatoren, die verhindern,

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