Wenn er mich findet, bin ich tot
dass ich hinten sitzen kann, ist er leer. Zu früh für Schüler und Leute, die in der Kreisstadt arbeiten und kein Auto haben. Ich setze mich auf den Vierersitz und versuche, keine Blicke auf mich zu ziehen.
»Du wohnsch doch beim Beck in der Oberstraße?«
Ich nicke.
»Kriegsch deine Zähne net auseinander?«
Sie ist vielleicht siebzig oder hundert, hat eine Wollmütze auf und starrt mich mit ihren kleinen, wimpernlosen,strahlend blauen Augen absolut unverhohlen neugierig an.
Der Bus fährt los und erlöst mich für ein paar Sekunden, weil sie sich festklammern muss.
»I bin die Maria Kindler und wohn in der Schulstraße.«
Oberstraße runter, erste rechts. Das Haus mit dem durchhängenden Fensterbrett kenn ich. Hinter der Scheibe hab ich meine Sitznachbarin schon öfter gesehen, mit der Nase an der Scheibe und die Ellenbogen auf dem Kissen. In Lauterstetten nennt man sie Tagblatt oder Tagblättle , ausgesprochen Dagbläddle . Der CIA, Facebook und Google wissen im Vergleich zu ihr nichts über die Leute, heißt es.
»Ich bin Tilly Krah«, sag ich. »Mein Vater ist Berliner, aber meine Mutter ist Sherpa. Deshalb bin ich so schwarzhaarig.«
Soll doch das Tagblatt die Nachricht verbreiten.
»Aha, so isch des. Du bischt also eine halbe Tibetanerin, wie der Dalai Lama.«
»Der Dalai Lama ist ein ganzer.«
Auf der anderen Gangseite nickt ein alter Herr zustimmend. Die anderen staunen. Das große Lauschen im Bus. Ich will raus.
»Ond? Spukt es im Haus?« Das Tagblatt blickt sachlich. Natürlich ist sie neugierig, aber sie sieht aus, als könnte ich mit »Ja« antworten, und das wär total normal.
Ich frag nach: »Bei Beck?«
»Wo denn sonscht?«
Da gibt’s viele Möglichkeiten, denke ich. Vielleicht ganz in ihrer Nähe, in ihrem Oberstübchen? »Ich hab noch nichts gemerkt.«
»Der alte Beck hot Tote aufgeschnitten.«
»Ein Mörder?«, frag ich entsetzt und weiche vor ihrem krummen Zeigefinger zurück, der mich beinahe am Schlüsselbein berührt hätte.
Nach einer Pause sagt sie: »Der Mann war Gerichtsmediziner. Des isch nix Normales. Beruflich hot der von morgens bis abends nix anderes gemacht, als Leichen geöffnet und Schädel aufgesägt.«
KRASS.
»Schwätz doch nicht, Maria«, fährt der Herr von der anderen Gangseite empört dazwischen. »So spricht man doch net mit so einem jungen Menschen.«
»Mir war der alte Dr. Beck suschpekt«, beharrt Maria.
Der Bus bremst an der Haltestelle Gewerbezentrum Rast . Soll ich aussteigen? Der nächste kommt erst in einer halben Stunde und ich hab meine Laufsachen nicht mit. Doch der Busfahrer stoppt auch hier nicht richtig. Das entscheidet die Sache: Ich bleibe und unterhalte mich weiter mit Maria.
»Ich glaub nicht, dass der alte Dr. Beck die bösen Geister mit nach Hause gebracht hat.« Meine Bemerkung kommt mir diplomatisch und reif vor.
»Die Leichen sind nicht nach einem friedlichen Ende unter sein Messer gekommen«, weiß das Tagblatt.
»Also bitte! Der Dr. Beck ist doch erst nach seinem Ruhestand richtig hergezogen«, wirft der alte Herr ein.
»Ond? Davor hot er sich auch scho immer bei uns von seinen harten Fällen erholt.« Das Tagblatt lässt sich nicht beirren. »Seine Seele hot unter der Belaschtung gelitten. Des isch sicher. Sonscht wär ihm auch net d’ Frau auf und davon gegangen.«
Außer mir, dem Busfahrer und dem alten Herrn nicken alle zustimmend. Ich beschließe, die Topagentin der Schwäbischen Alb als Informationsquelle anzuzapfen. »Ist Ihnen sonst noch was Seltsames in Lauterstetten aufgefallen?«
»Sehr viel.« Mehr sagt sie nicht. Sie hält sich bedeckt.
»Und so etwa kurz vor Weihnachten?«
»Außer, dass ihr drei ins Haus vom alten Beck gezogen seid?«
»Ja.«
Sie sieht mich an, und ich komm mir vor wie in einem der Träume, wo man als Einzige nackt in einem Bus voller angezogener Mitfahrer sitzt.
»In welcher Hinsicht?«, hakt sie nach.
Ich frage mich, was ich verlieren kann, wenn ich ihr ehrlich antworte? Sie hat mich gefragt, ob es im Haus vom Chef spukt! Sie ist das Tagblatt. Sie wird allen alles erzählen, und dann wissen alle über alles Bescheid.
»Ist Ihnen ein Frankfurter Kennzeichen aufgefallen, oder sind Fremde die Oberstraße rauf- und runtergefahren oder zu Fuß gegangen und haben sich komisch verhalten?«
»Komisch?«
»Als ob sie jemand suchen würden und dabei nicht auffallen wollten.«
»Nein«, sagt sie bestimmt. »Wenn’s so wär, wüsst ich das. Und wenn’s so isch, sag i dir
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