Wenn er mich findet, bin ich tot
Bescheid.«
Das Tagblatt lässt keine Zweifel aufkommen, darüber bin ich froh und sage: »Danke.«
21.6.12, Berlin, letzter Schultag
Schultreppe, links mein Fahrrad. Klick. Jemand hat mich aus den Büschen heraus fotografiert und haut ab. Ich hinterher. Er bleibt stehen und drückt wieder ab. Fühle mich getroffen, abgeschossen.
Er fährt mit einem schwarzen Mercedes weg.
Ich dreh durch, lauf zurück und lass mich in die Geschlossene einweisen.
Es dauert, bis die Taschen, Gehhilfen und Mitreisenden ausgeladen sind. Dann ziehe ich den Hackenporsche von Maria Kindler von der Haltestelle durch die Schulstraße bis vor ihre Haustür. Das dauert auch seine Zeit, weil sie nicht mehr so rüstig ist.
Der erste war auch schon Paolo Mottas letzter Besuch des Vorbereitungskurses für die Schulfremdenprüfung an der Volkshochschule. Und ab Donnerstag lässt auch Kolja Jäger den Kurs ausfallen. Am Samstag kurz vor sechs Uhr in der Früh taste ich mich in die Küche, um mir was zu trinken zu holen. Am Küchentisch sitzt Paolo und stiert mich an.
»Was is?«
Er kichert. »Du siehst sexy aus.«
»Mach mal deine rot glühenden Augen zu. Das sieht unheimlich aus.«
»Entspann dich.« Er kichert nicht mehr.
»Du blöder Depp, hängst mit Boo und seinen Kumpels ab. Die übelsten und grenzdebilsten Kiffer im Umkreis von dreißig Kilometern.«
»Und? Was geht’s dich an?«, lallt Paolo.
Er ist eben erst nach Hause gekommen, das ist klar. »Wenn du dich in Schwierigkeiten bringst, bringst du auch mich in Schwierigkeiten. Geht mich das was an oder nicht?«
Er hängt schief und krumm auf dem Stuhl, die Ellbogen aufgestützt, und lässt den Kopf zwischen den Knien baumeln. Ich hatte bloß Durst! Und jetzt muss ich mir ansehen, wie einer, den ich mal kurzfristig richtig gerngehabt habe, versucht, seine letzte einsame zurückgebliebene Gehirnzelle zu aktivieren. Nein, muss ich nicht. Ich gehe.
»Tilly …« Er erwischt mein T-Shirt und hängt sich dran. Ich reiß mich los, dann scheppert es hinter mir. Der Trostlose kippt vom Stuhl. Pennen ist nicht mehr. Kaum wird es hell, zieh ich meine Laufklamotten an. Zum Bahnhof Rastkirch und zurück sind es etwa fünfzehn Kilometer. Nach einer Stunde und ein paar Minuten stehe ich unter meiner Privatdusche und mir geht’s um Klassen besser.
»Wo isser?« Kolja kippt kochendes Wasser auf den Instantkaffee und mit der anderen Hand gleichzeitig Milch auf die Cornflakes.
»Pennt.«
»Der ist so fertig.«
»Nicht mehr lang und er baut richtig Scheiße«, prophezeie ich. Aber ich weiß nicht, ob mich Kolja bei dem Krach, den er macht, verstehen kann. Er schaufelt Cornflakes in sich rein, als wären es die letzten für lange, lange Zeit.
»Was habt ihr gestern durchgenommen?«
Hab keinen Bock, samstags beim Frühstück Nachhilfe zu geben, deshalb antworte ich nicht.
»Sag schon.«
»Was machst du heute?«
»Bin mit Lena verabredet.«
Lena, Anna, Lisa, Laura, Julia, Sarah, Johanna, Sofia … Kolja beglückt die vernachlässigte weibliche Dorfjugend. »Ist es eine Bedingung für dich, dass sie auf A enden?«
»Sorry, Tilly, du kommst aus anderen Gründen nicht in Frage«, sagt Kolja schroff.
»Sandra« steht groß und schweigend im Raum.
»Rück die Schulsachen raus, ich muss los.«
Ich mach keine Anstalten.
»Ich besorg die Prüfungsunterlagen, du das Übungszeug«, sagt Kolja autoritär.
»Mann, du hast keine Ahnung, wie du und Paolo mir auf die Nerven geht.« Meine Stimme klingt schrill, kann es aber nicht ändern.
»Such dir Freunde, Tilly.«
»Halt die Klappe!«
Irgendwie kriegt Kolja mit, dass ich »Fresse« sagen und »arrogantes Arschloch« brüllen wollte und verzieht sich, Türen schlagend, was den Chef auf den Plan bringt.
»Hier sieht’s ja übel aus.«
»Glaub ja nicht, dass ich hinter den Jungs herräume.«
Beck seufzt. »Essen wir morgen zusammen?«
»Warum nicht heute schon?«
»Ich hol eine Tischsäge ab und bin erst heute Abend wieder da.«
Ich kenne hier niemand, hab als einzige keine Verabredung.Nichts hat sich geändert. Schlagartig wird mir klar, dass ich so allein auf dem Land total durchdrehe. Das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit überwältigt mich, und ich spüre, wie die Wände näherkommen. Entweder muss ich mich zukünftig am Wochenende verabreden oder eine Beschäftigung finden. Ich überlege fieberhaft: Klettern, Reiten, Wandern, Mitglied werden im Sport- oder Schützenverein. Alles Möglichkeiten, die mir absolut grauenhaft
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