Wenn er mich findet, bin ich tot
warst du im Stall? Warst du da … eingesperrt?«
»Nein. Daniela hat gesagt, dass sie mich im Schuppen gefunden hat.«
»Wie? Was? Gefunden?«, fragt Kolja verstört.
»Anscheinend hab ich mich in dem Hühnerstall versteckt. Ich weiß es nicht! Ich hab ihre Hühnereier gegessen und die Klamotten von Maik von der Leine geklaut und angezogen.«
»Die haben nicht gewusst, wer du bist?«, fragt Paolo fassungslos.
»Nein. Daniela hat nur gesagt, ich hätte Angst gehabt und wollte nicht aus dem Hühnerstall rauskommen.«
»Aber irgendwie musst du doch in den Stall reingekommen sein?«, sagt Kolja. Er ist total durcheinander. »Du bist doch irgendwo hergekommen, wenn die dich nicht selber eingesperrt haben! Das gibt’s doch gar nicht!«
»Wir haben am Dorfrand gewohnt, im letzten Haus, der nächste Nachbar war zweihundert Meter entfernt. Also …« Ich hab keine Ahnung, wie ich den beiden die wahnsinnigen Zustände, die für mich ewig lange normaler Alltag waren, erklären soll. »Also, Daniela hat nur gesagt, sie hätte mich gefunden, und ich hätte nicht gesprochen. Jedenfalls nichts, was sie verstanden hat.« Dass ich wie ein Tier gewesen sein soll, sag ich nicht.
»Daniela, Daniela.« Jetzt hat Paolo Tränen in den Augen. »Kannst du selbst dich gar nicht daran erinnern? Du weißt überhaupt nicht, was vorher war? Wo du hergekommen bist?«
Ich schüttle den Kopf. »Daniela sagt, die Alte hätte mich aufgepäppelt. Ich war klein und dünn. Sie habenalle so getan, als ob ich Tilly wäre. Besuch ist sowieso nie gekommen. Und nach den Ferien bin ich als Tilly Krah eingeschult worden. Und seither bin ich Tilly Krah, obwohl die richtige Tilly Krah tot ist. So ist es. Das ist alles, was ich weiß.«
»Das ist das Allerletzte!« Die ganze Sache regt Kolja total auf.
Paolo bleibt ruhig oder er ist erstarrt. »Das heißt, alle haben einfach Tilly zu dir gesagt?«
Ich nicke. »Tilly hatte rotblonde Locken, sagt Tante Mandy.«
»Gibt’s Fotos von Tilly?«, fragt Kolja.
»Alter! Wir sind nicht die drei Fragezeichen!«, regt sich Paolo auf. »Wir spielen nicht Detektive! Kapiert?«
»Okay«, sagt Kolja. Und zu mir: »Und an was kannst du dich erinnern?«
»Der Alte ist aus dem Knast gekommen. Alle sind zu ihm hingerannt. Ich nicht. Aber er hat mich gesehen, gewunken und mir die Hand entgegengehalten. Ich bin dann auch gerannt, und dann hat er mir zur Begrüßung volle Kante eine gescheuert. Ab da kann ich mich erinnern, und seither renne ich. Immer in die Gegenrichtung.«
»Kolja!« Pause. »Wo steckt ihr denn?« Der Chef ruft aus der Werkstatt. Seine Stimme klingt weit entfernt.
Hoffentlich kommt er nicht hier hoch.
»Und davor?«, flüstert Paolo.
»Nichts. Absolut nichts. Nur …«
»Was nur?«
»Albträume. Panikattacken. Bilderfetzen. Angst.«
»Kein Wunder«, flüstert Kolja. »Kein Wunder.«
»Der Chef sucht uns. Wir machen später weiter, das muss ich erst mal verdauen.« Paolo murmelt irgendwas auf Italienisch weiter.
Ich putze, freiwillig, obwohl ich die Küche am wenigsten versaut habe von uns dreien. Weil ich erleichtert bin! Und ich koche nach Packungsanleitung ein perfektes Mirácoli, von Paolo mit Schafskäse veredelt. Kolja verziert zum Dank sich selbst und den Tisch mit Tomatensoßenspritzern.
Paolo: »Du frisst wie ein Schwein.«
Kolja: »Grunz.«
Seltene Eintracht.
»Habt ihr ein konspiratives Treffen?« Der Chef streckt seinen Kopf zur Tür herein.
»Wenn du Hunger hast, kannst du teilnehmen«, kontert Kolja.
»Vielen Dank, aber die fünf Nudeln im Topf schafft ihr auch noch«, lehnt der Chef ab und sieht mich an. »Wollte nur nachsehen, wie’s dir geht.«
»Besser«, sag ich, »morgen geh ich in die Schule.«
»Gut. Ich bin in der Werkstatt, wenn ihr was braucht.«
Er lässt uns allein. Wir essen schweigend, Kolja schmatzend, unser leckeres und preiswertes Gericht auf.
Gerade schieb ich die letzte Gabel in den Mund, da schnappt sich Kolja meinen Teller, verkündet laut, »ich räum ab«, schleicht stattdessen zur Tür und reißt sie auf.
Er hat den Chef nicht beim Lauschen erwischt.
Paolo kommentiert Koljas Lauschabwehr-Tricks nicht. »Du weißt nicht, wie du bei den Krahs in den Stall gekommen bist?«
»Nein. Keinen blassen Schimmer.«
»Es gibt Methoden, wie man sich wieder an Sachen erinnern kann. Zum Beispiel, wenn man sich auf alles, was mit der Oma oder so zu tun hat, konzentriert«, sagt Kolja.
»Ich hab alles probiert. Da ist nichts. Ich fühle es in meinem
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