Wenn er mich findet, bin ich tot
das Verschwinden seiner Tochter und Julie Thompson gibt es massenhaft Material, auch welche privaten Ermittler eingesetzt worden sind.«
»Ich will’s nicht wissen.«
»Weiß ich! Musst du nicht! Aber du könntest mir und Kolja helfen.«
Ich schüttle den Kopf und denke: Ich rück die Panikbücher nicht raus. Zeitgleich schieb ich sie zu Paolo rüber.
»Willst du dabei sein?«, fragt er.
»Wobei?«
»Wenn wir lesen.«
»Nein!« Er hat sie nicht alle.
Es ergibt sich dann aber doch noch am Abend, als wir in der Wohnküche abhängen. Ich stelle fest, Paolo und Kolja gehen völlig anders vor als ich. Sie wühlen nicht in sich, sondern im Internet. Jede Notiz in den Panikbüchern, Anlass, Zeitpunkt und Ort, recherchieren sie im Zusammenhang mit Victor Georg Goedel, GDS, Julie Thompson und stellen Querverbindungen her.
Ich hör hin. Ich hör weg. Ansehen kann ich mir ihre Aufzeichnungen nicht, weil ich kotzen muss. Ich reagiere körperlich und habe FURCHTBARE Angst! Auf dem Tisch liegt ein Bild von der vierjährigen Alma. Jeder Blinde kann sehen, dass ich es bin.
»Hör mal auf, Tilly.«
»Womit?«
»Du vibrierst auf dem Sofa rum, das halt ich im Kopf nicht aus.« Paolo schiebt den Ordner weg und sieht mich an.
Brutalität kann ich nicht gut ab, aber Mitleid halte ich gar nicht aus. Ich zieh mir die Sofadecke übers Gesicht.
»Mir setzt das Alma-Marter-Material auch zu, aber …«, setzt Paolo an.
Ich richte mich auf: »Das … was?«
»Entschuldigt, wenn ich in eure Auseinandersetzung reingrätsche. Was hat es mit den Steinen auf sich?« Kolja sieht mich fragend an.
»Steine?«
»In deinen Albträumen kommen fast immer Steine vor«, erklärt Paolo.
Ihm ist es auch aufgefallen. Mir nicht.
»Steine und Dunkelheit. Vielleicht fällt dir was dazu ein.« Kolja sieht nicht zu mir rüber. »Ich hasse Goedel. Ich hätte gern den schwarzen Gürtel, und wenn ich ihn zwischen die Finger kriegen würde …«
Paolo: »Könntest du die Tigerklauen-Technik anwenden.«
Kolja: »Und den Adlerklauen-Stil zum Einsatz bringen.«
Die beiden trauen Goedel alles zu.
Paolo arbeitet total verbissen am Alma-Marter-Marterial. Wie er es nennt . Und er sucht meine Mutter.
Ich hör nicht hin. Er wird nicht fündig. Kein »Ich hab sie!« Und plötzlich kann ich Paolo nicht mehr ansehen.
SCHOCK.
Ich beiß ins Sofakissen, weil ich ihn liebe. Ich bin verliebt, verknallt, verrückt nach ihm! Kein Zweifel! Was soll ich denn bloß machen? Liebe, das ist ’ne andere, ’ne unbekannte Dimension.
»Was machst du denn für’n Gesicht?« Kolja fragt.
Ich sage: »Gar keins.«
Er grinst. »Hab ich dir schon mal gesagt, dass du sehr hübsch bist?«
ÄH. ÄÄÄH.
Kolja: »Es stimmt. Ich sag das manchmal zu Mädchen, die ich nicht halb so hübsch finde wie dich.«
»Warum hältst du nicht einfach die Klappe?«
21
Herrenhaus Flusshorst
Der Chef am Bahnsteig 11 wird immer kleiner. Wir reisen zu unserem Französisch-Intensiv-Sprachkurs ab. Im Gepäck befindet sich das gesamte Alma-Marter-Material. Wir sitzen noch nicht richtig auf unsren Hintern am Viererplatz mit Tisch und Steckdose, da sind die Kerle schon verkabelt, die Ohren verstöpselt, der Blick leer, die Schokoriegel angefressen.
BAM, BAMM, BAAM.
Knie schlagen im Takt gegen das Tischchen.
Ich bin die Einzige mit unverstopften Sinnesorganen und behalte alle im Auge, höre Telefonate mit, zähle abgenagte Fingernägel und nervöse Ticks der Anzugträger. Bei jedem ins Handy gebrüllten »Hase« und »lieb dich« mache ich einen Strich. Bei zehn Strichen gehe ich ins Bistro und trinke Kakao. Knappe sechs Stunden Fahrt bis Ostbahnhof Berlin, zehn Minuten warten, dann noch fünfundvierzig Minuten bis Lübben. Kolja schläft tief, und Paolo sieht mich merkwürdig an. Ich lodere, glühe, brenne, bleib aber äußerlich ganz ruhig. Leckt mich, alle, denke ich mindestens hundertmal. Ich sollte eine Strichliste führen. Gefühle sind das Allerletzte!
Draußen ist alles grün. Seit circa sieben Wochen schon,ich hab mich immer noch nicht daran gewöhnt. Zu lange habe ich die Äste blattlos gesehen, in harten Kontrasten. Jetzt sieht alles unscharf aus, flimmerndes Grün. Ich sabbere beinahe. Ein frischer Grünton macht, dass mir die Spucke im Mund zusammenläuft. Ich muss mal ein Junikäfer gewesen sein. Hunger! Ich hole meine Schokoriegel aus der Tasche.
»Tausche Käsebrot gegen Riegel.« Paolo verhandelt.
»Käsebrote hab ich selber.«
Kolja schlägt die Augen auf. »Her mit dem
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