Wenn es daemmert
Grab seiner Frau beigesetzt. Nur deshalb war Margaret überhaupt in Schottland. Sie hatte bis zum Wochenende bleiben wollen.
Mina zog sich ihren Bademantel über, froh über die Ablenkung, froh, dass sie nicht über die Schmerzen nachdenken musste, die sie noch immer hatte. Ihr war zwar nicht mehr schlecht, aber ein dumpfes Pochen zwischen ihren Beinen war geblieben.
»Du sagst, wenn du …«, begann Margaret.
»Ja. Lass uns lieber über dich reden. Wie geht es dir jetzt?«
»Wegen Vater?« Margaret war ins Gästezimmer gegangen, wo sie gerade ein Kissen in einen Bezug stopfte. Sie setzte sich auf das Bett, das Kissen noch in den Händen, und starrte mit einem erschöpften Blick an die Wand, während ihre Tochter begann, einen recht aussichtslosen Kampf gegen Bettdecke und Überzug auszutragen. »Ihn jetzt auch noch zu verlieren, zwei Jahre nach Mutter, ist hart, aber er war immerhin neunundachtzig. Mich stört trotzdem, wie er gestorben ist.«
»Weil ihr nie richtig geredet habt?«, fragte Mina und dachte: Weil er dich nie geliebt hat?
»Ach, einen fast Neunzigjährigen bringst du nicht mehr dazu, mit seiner Tochter Frieden zu schließen, vor allem, wenn er nie eine Tochter wollte.«
»Noch dazu eine, die immer alles falsch gemacht hat«, lächelte Mina.
»Kein Vergleich mit ihren mustergültigen Brüdern.« Nun lächelten beide. »Wenn ich ehrlich bin, hab ich mich zwar jahrelang danach gesehnt, seine Aufmerksamkeit zu bekommen, aber ich habe schon sehr lange aufgehört, ihn zu lieben. Darf man so etwas über seinen Vater sagen?«
Woher soll ich das wissen?, dachte Mina, und sagte: »Sei ehrlich mit dir, das ist das Einzige, was zählt. Also, was stört dich?«
»Es kam so unerwartet. Robert meinte, er hätte den Tod unserer Mutter nicht verwunden, aber das glaube ich nicht. Nicht nach zwei Jahren.« Robert war der älteste von Margarets Brüdern.
»Was glaubst du, warum er gestorben ist? Der Arzt hat nichts Ungewöhnliches festgestellt«, sagte Mina und dachte an Matt. »In dem Alter, ist es da nicht …« Normal, hätte sie fast gesagt.
Margaret zuckte die Schultern. »Seine Nachbarin hat etwas Merkwürdiges gesagt.«
»Welche?«
»Mrs Sedgwick-Boyle.«
»Die Mrs Sedgwick-Boyle, die dreimal in der Woche die Polizei ruft, weil sie denkt, jemand wolle bei ihr einbrechen?«, fragte Mina und gab den Kampf gegen die Bettdecke auf.
»Nur weil sie sich einsam fühlt, heißt das noch nicht, dass sie spinnt.«
»Entschuldige. Also, was hat sie gesagt?«
»Sie sagte, er hätte einen Tag vor seinem Tod Besuch gehabt.«
»Von wem?«
Margaret stand vom Bett auf und nahm Mina die Bettdecke aus den Händen. »Sie sagte: ›Ihre Lordschaft hat sich selbst ins Gesicht gesehen.‹ Ich fragte sie, was sie damit meinen würde, und sie antwortete nur, ein Mann sei zu Besuch gewesen, aber mein Vater hätte die Tür gleich wieder zugeschlagen.«
Mina zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Jemand von der Kirche vielleicht oder von einer Wohltätigkeitsorganisation, eben die Sorte Leute, denen er nicht mal guten Tag gesagt hätte.«
»Aber sie sagte, er hätte sich selbst ins Gesicht gesehen. Sie hat es mir bei der Beerdigung erzählt. Ich konnte sie nicht mehr weiter danach fragen, weil David und Robert kamen, und sie war ganz ›Eure Lordschaft‹ mit Robert. Das hast du doch mitbekommen?«
»Als sie vor Robert geknickst hat und nicht mehr hochkam?« Mina kicherte unwillkürlich bei der Erinnerung. Robert war der Erbe des Titels und damit 4. Earl of Herton. »Frag sie einfach, wenn du sie wieder siehst«, schlug sie vor. »Oder ruf sie an, wenn es dir so sehr auf der Seele brennt. Sie hat doch Telefon?«
Die beiden Frauen sprachen noch eine Weile über die Beerdigung, über Margarets Brüder und deren Familien, mit denen sie beide nur wenig Kontakt hatten. Mina öffnete das Fenster, um zu lüften, und die Schreie der Möwen drangen in den Raum. Keine Raben, dachte Mina und war froh.
Es war dunkel geworden. Ihre Mutter stellte sich ans Fenster, von dem aus man die Ruinen der Kathedrale und den St. Rule’s Tower sehen konnte.
»Es wird nicht richtig dunkel«, sagte sie und deutete nach Nordwesten, wo der Himmel noch tintenblau war.
»Nein, wenn wir noch ein bisschen durchhalten, dann siehst du, wie es auf der anderen Seite gleich wieder hell wird.«
»Wann ist Mittsommer?«
»Vor drei Tagen«, sagte Mina.
Aber sie hielten nicht bis Sonnenaufgang durch. Margaret wurde müde, bevor die Morgendämmerung kam.
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