Wenn es daemmert
Mina legte sich in ihr Bett und dachte daran, dass Matt vor vierundzwanzig Stunden noch gelebt hatte. Das Fenster ging zur Straße hinaus, aber sie ließ die Vorhänge offen, denn sie liebte das orangefarbene Licht der Sodiumlampen. Sie scheute die Dunkelheit, hatte die Kinderangst vor der Nacht und ihren wispernden Kreaturen nie verloren.
Mina fragte sich, ob die Stunden, die sie in der Nacht zuvor in absoluter Dunkelheit verbracht hatte, jemals wieder zurückkommen würden. Sie fasste sich mit der rechten Hand zwischen ihre Beine, wie um sich dort zu schützen, und rollte sich auf die Seite. Bevor sie die Augen schloss, sah sie die Reflexion ihrer selbst im Spiegelschrank, der dem Bett gegenüberstand. Eine zusammengekauerte Gestalt mit riesigen, ängstlichen Augen starrte zurück und flehte sie an, bloß nicht einzuschlafen.
Sie lag in ihrem Bett in der Charlottenburger Wohnung. Dort hatte sie mit ihrer Mutter am längsten zusammen gewohnt, bevor sie getrennt wurden. Fünf Jahre waren es immerhin gewesen. Dann hatte Margaret Thomas Williams geheiratet und war mit ihm nach Israel gegangen. Mina wurde in ein privates Internat in Oxfordshire gesteckt, und ein neues Leben hatte begonnen. Doch das war später. Charlottenburg bedeutete Kindheit, Geborgenheit, Sicherheit.
Und dann kam Matt in dieses Kinderzimmer, grinste sie an, wie er immer alle angegrinst hatte, wirkte größer, als er in Wirklichkeit gewesen war, wirkte riesig, so riesig mit einem Mal, dass er nicht mehr aufrecht in ihrem Zimmer stehen konnte, sich setzen musste, auf ihr Gesicht, bis sie keine Luft mehr bekam.
Sie wachte um halb vier Uhr morgens mit rasendem Herzen auf. Wusste nicht, wo sie war, erkannte erst nach einer Weile ihr neues Zuhause. Graublaues Licht drang von außen herein. Es wurde Tag.
Wenn es Tag wurde, war alles gut, dachte sie. Niemand war in ihrem Zimmer, und Matt war tot. Es waren nur die Kreaturen der Nacht gewesen, die sie geplagt hatten, die sie immer wieder heimsuchten, wenn sie sich einsam fühlte. Mina erinnerte sich daran, dass ihre Mutter im Zimmer nebenan schlief. Ihre Mutter war noch nie besonders gut darin gewesen, ihr die Angst zu nehmen.
7.
McCallum stand gegen halb neun vor ihrer Tür und fragte missmutig, ob er eintreten dürfe. Mina war früh aufgestanden und hatte Fotos auf ihren Laptop geladen, um sie für ihr elektronisches Tagebuch zu ordnen. Seit sie nach St. Andrews gezogen war, hatte sie zwar hunderte Fotos gemacht, war aber noch nicht dazu gekommen, sie zu sortieren. Sie machte die Fotos, um nicht zu vergessen.
»Sie haben mir Blut abgenommen, ohne mein Einverständnis und mit Sicherheit auch ohne richterlichen Beschluss«, sagte Mina, klang vorwurfsvoll statt wie geplant kühl und ging ihm voran ins Wohnzimmer.
»Ich wusste nicht, ob und wann Sie wieder zu sich kommen. Ich wollte es analysieren, um zu sehen, was mit Ihnen nicht stimmte«, antwortete er, und es hörte sich nach dem an, was es war: zurechtgelegt. »In Ausnahmefällen kann auch ein Polizist ohne richterlichen Beschluss entscheiden. Und ich bin außerdem Polizeiarzt.« McCallum rutschte unruhig auf dem Stuhl herum, den Mina ihm angeboten hatte. »Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Offensichtlich sind Sie wieder wohlauf, also physisch. Das freut mich, und ich darf mich wieder verabschieden.« Er nahm seine abgewetzte schwarze Arzttasche, die wie ein Theaterrequisit an dem jungen Mann wirkte, und wollte gehen.
»Sie könnten mir den Blutdruck messen«, sagte Mina, und McCallum blieb stehen. Drehte sich misstrauisch um, ging langsam auf sie zu, so als wüsste er, was sie vorhatte. Bevor er ihr die Manschette um den Arm legte, beugte sie sich hinunter und nahm etwas aus seiner Tasche: einen kleinen goldenen Ring.
»Dass Frauen auch immer ihre Eheringe verlieren müssen, wenn sie fremdgehen«, sagte Mina kopfschüttelnd und sah auf McCallums Hand. »Das ist doch der Ring Ihrer Frau?« Sie steckte den Ring in die Tasche ihrer Jeans.
»Sind Sie jetzt völlig verrückt geworden? Geben Sie ihn her!«, rief der Arzt und wollte ihren Arm packen. Darauf war sie vorbereitet. Sie sprang auf und flüchtete sich zur Wohnzimmertür.
»Kommen Sie einen Schritt näher, und ich schreie. Meine Mutter ist im Haus, und ich würde ihr sagen, Sie hätten sich nicht wie ein Gentleman benommen. Wie sähe das wohl aus?«
McCallum versuchte, die Fassung zu wahren, und steckte das Blutdruckmessgerät in seine Tasche zurück. Wohl um Mina nicht ansehen zu
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