Wenn es daemmert
Treppe und des Geländers brannte bereits. Mina rannte zurück in ihr Zimmer, knallte die Tür zu, riss das Fenster auf und schrie um Hilfe. Es war früh am Morgen, und es regnete in Strömen. Auf der Straße war fast niemand zu sehen. Bis auf eine Frau, die einen Regenschirm über sich hielt und auf ein geparktes Auto zurannte. Als sie Mina hörte, blieb sie stehen. Mina brüllte: »Es brennt! Ich komm nicht mehr raus!« Sie sah noch, wie die Frau ein Telefon aus der Tasche zog. Jetzt erst ertönte ihr Feueralarm. Na prima, dachte Mina, wer braucht den noch, wenn das halbe Haus schon abgebrannt ist. Dann riss sie zwei Bettlaken aus dem Schrank. Sie schob ihr Bett zum Fenster, knotete ein Laken an einen Bettpfosten, knotete das zweite Laken an das erste, warf die beiden über den Fenstersims und wusste: Das würde niemals halten.
Sie zögerte, aber nicht deshalb. Sie hatte etwas vergessen, etwas, was sie dringend brauchte: ihre Tabletten. Sie musste dringend eine einnehmen, sonst würde sie das alles nicht durchstehen.
Die Tabletten waren in ihrer Handtasche, also suchte sie das Zimmer nach ihrer Handtasche ab, fand sie aber nicht. Eigentlich stellte sie die Tasche abends immer einfach neben dem Bett ab. Hatte sie sie unten im Wohnzimmer liegen lassen? Dann wäre jetzt alles verloren. Oder hatten die Männer sie mitgenommen? Wie sie auch ihr Handy und ihren Laptop mitgenommen hatten?
Vielleicht waren im Bad noch welche. Ja, im Bad mussten noch Tabletten sein. Mina öffnete ihre Zimmertür. Die Flammen fraßen sich die Treppe entlang, hatten den oberen Flur aber noch nicht erreicht.
Es würde reichen. Sie rannte ins Badezimmer, riss alle Schränkchen auf und hoffte, noch irgendwo ein Fläschchen zu finden. Vergeblich. Sie merkte erst jetzt, dass sie schon seit einer Weile hustete und fast nicht mehr atmen konnte. Nicht allein die Flammen töten, dachte sie, das Schlimme ist der Rauch. Die meisten ersticken, bevor sie verbrennen. Sie nahm ein Handtuch, machte es nass und hielt es sich vor das Gesicht, dann rannte sie zurück in ihr Zimmer und warf wieder die Tür ins Schloss. Die Tür würde die Flammen nicht aufhalten, aber wenigstens noch eine Weile den Rauch.
Was mache ich ohne Tabletten?, dachte Mina. Was mache ich, wenn sie mir hier keine mehr aufschreiben? Zuletzt hatte sie vor der Party eine genommen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie viele es gestern insgesamt gewesen waren. Schon seit Wochen, wenn nicht seit Monaten überschritt sie die vorgeschriebene Tagesdosis deutlich, ohne dass ihr Arzt etwas davon wusste.
Die Flammen hatten die Tür erreicht. Es blieb keine Zeit. Sie hörte nicht, was die Frau, die jetzt vor ihrem Fenster stand, rief. Sie nahm ihren Tweedmantel aus dem Schrank, kletterte auf die Fensterbank, hielt sich an den Laken fest, ließ sich daran ein Stück herunter, die nackten Füße gegen die regennasse Außenwand des Hauses gestemmt. Vier Fuß hatte sie erst geschafft, als sie merkte, wie etwas nachgab. Wie sich einer der Knoten löste. Wie sie fiel.
Die Frau kniete neben ihr, hielt einen Schirm über sie und sagte ihr, sie solle sich nicht bewegen. Die Feuerwehr sei unterwegs. Den Krankenwagen konnten sie schon hören.
»Warum soll ich mich nicht bewegen?«, fragte Mina und befühlte ihren Kopf. Alles schien in Ordnung zu sein. Ihre Arme und Hände konnte sie ebenfalls bewegen. Sie probierte die Beine. Ihr rechter Fuß tat weh, mehr aber auch nicht. Das Geräusch des Regens auf dem Schirm hatte etwas Beruhigendes.
»Keine Ahnung«, sagte die Frau. Sie klang aufgeregt und sprach furchtbar schnell. »Falls Sie sich was gebrochen haben. Ich bin kein Arzt. Mein Gott, bin ich froh, dass Sie leben! Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis Sie rausgekommen sind! Und als ich Sie da hab runterfallen sehen, dachte ich schon, es sei vorbei. Hoffentlich haben Sie nicht zu viel von dem Rauch eingeatmet. Ist sonst noch jemand im Haus?«
»Nein, nein, niemand.« Mina sah zu ihrem Zimmer hoch. Sie konnte die Flammen durch das offene Fenster sehen. Die Höhe, aus der sie heruntergefallen war, schätzte sie auf höchstens zwölf Fuß. Nichts, womit man sich umbringen konnte, schon gar nicht, wenn man auf Rasen fiel. Einen Moment dachte sie darüber nach, ob dies etwas mit Glück zu tun hatte.
Der Krankenwagen hielt, Sanitäter sprangen heraus und sahen nach ihr. Die Feuerwehr kam nur eine Minute später, aber da hatte man Mina schon in den Krankenwagen geschoben, ihr etwas auf Mund und Nase gedrückt
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