Wenn es daemmert
und sie mit Blaulicht abtransportiert. Mina dachte daran, wie nah das Krankenhaus war, eine halbe Meile entfernt vielleicht, und fragte sich, ob das mit dem Blaulicht nötig war. Überhaupt war doch alles nicht so schlimm, fand sie. Im Grunde war gar nichts passiert. Sie war müde, sie musste ein wenig schlafen, dann würde alles in Ordnung kommen. Also würde sie genau das tun.
Die Sanitäter ließen sie nicht. »Wach bleiben«, schrie sie der eine an. Auch wenn sie wusste, dass er schrie, hörte es sich für sie nicht sehr laut an. Er klang, als würde er in ein Kissen schreien.
»Wie heißt sie?« Alle schienen irgendwie in Kissen hineinzusprechen.
»Mina«, sagte eine Frau, die ganz weit weg war. Vielleicht die, die vor ihrem Haus gewesen war. Vielleicht stand sie immer noch vor ihrem Haus.
»Mina, bleiben Sie bei uns, Sie dürfen jetzt auf keinen Fall einschlafen«, sagte jemand von der anderen Seite der Nordsee.
Warum nicht, es fühlte sich an, als sei es das einzig Richtige. Nur ein bisschen schlafen, nur kurz.
10.
Cedric verlor die Orientierung, als er versuchte, seinen Wagen wiederzufinden. Nach einer Stunde fand er nicht einmal mehr den Weg zurück zum Anwesen seines Vaters. Die Felder sahen alle gleich aus. Die Hügel ebenso. Der Blick über den Firth of Forth schien von jedem Ort aus derselbe zu sein. Cedric hatte keine Erfahrung damit, sich bestimmte Punkte in der Landschaft zu merken und sich an ihnen zu orientieren. Er wäre im Moment aber auch zu durcheinander dazu gewesen.
Im Haus seines Vaters trafen sich Brady und ein Killer. Was hatte das zu bedeuten? Es ging um Menschenhandel, illegale Einwanderer, Prostitution. Von dem Killer, dem Mann in dem schwarzen Range Rover, wurde alles organisiert. Er brauchte Hilfe von Personen, die innerhalb des Systems agierten: Brady, der Polizist, wurde informiert, wann und wo er und seine Leute wegsehen sollten. Er brauchte Hilfe von Personen, die Verbindungen zu anderen in Schlüsselpositionen, in hohen Ämtern hatten. Hatte das Isobel Hepburn nicht gesagt? Damit Papiere gefälscht, Unterkünfte für die Frauen angemietet werden konnten, und er wollte gar nicht wissen, was noch alles hinzukam. Sein Vater kannte alles und jeden. Natürlich, es ergab Sinn, es war so klar, Cedric hätte fast gelacht.
Der Mann in dem Range Rover führte die Agentur mit den angeblichen Au-pairs, die in Wirklichkeit minderjährige, illegale Einwanderer waren. Sein Vater unterstützte diese Agentur offenbar. Er nutzte sie, um seinem Sohn ein Mädchen vorbeizuschicken. Er musste gewusst haben, dass sie minderjährig war.
Was war sein Vater für ein Mensch? Und wie sollte er Mina davon erzählen? Hör zu, ich war zufällig dabei, als jemand deine Mutter umgebracht hat, und dieser jemand ist außerdem noch ein Freund von meinem Vater, ein so guter Freund, dass er mal eben nachts nach einem Mord bei ihm vorbeifährt. Oh, und Brady ist auch mit von der Partie.
Immer wenn er nicht genug geschlafen hatte, wurden für ihn Dinge, die er sonst halbwegs meistern konnte, zu einem unüberwindlichen Problem. Normalerweise sicherte er sich dagegen ab. Er hatte stets sein Auto in der Nähe, und im Handschuhfach befanden sich Desinfektionssprays, Reinigungstücher, in einem kleinen Koffer auf der Rückbank sogar Kleidung zum Wechseln, eine frische Zahnbürste, Zahnpasta, Handtücher, eben alles, was er im Notfall brauchen würde. Aber er fand sein Auto nicht, er hatte nur seine Brieftasche, und es war nicht allein der Schlaf, der ihm fehlte, der Schock, den er erlitten hatte, der Horror dessen, was er mit angesehen hatte. Cedric war von oben bis unten dreckig. Überall schienen Insekten auf ihm zu krabbeln, er schwitzte, seine Hände klebten. Und jetzt fing es auch noch an zu regnen. Es war unerträglich. So unerträglich, dass etwas völlig Neues mit ihm geschah. Er wurde nicht ohnmächtig, wie er erwartet hatte. Er spürte etwas, das viel stärker war als seine Neurosen, etwas, das sie in den Hintergrund treten ließ, jedenfalls zeitweise: ein Überlebenswille. Dem Killer nicht in die Arme zu laufen, hier wegzukommen, Mina zu warnen, nur das zählte.
Cedric ging weiter, bis er eine Straße fand. An der Straße waren Wegweiser, ein Stück weiter sogar eine Bushaltestelle mit einem öffentlichen Telefon, und so war es ihm möglich, ein Taxi zu ordern. Eine halbe Stunde später las ihn der Taxifahrer tatsächlich auf, und Cedric ließ sich nach St. Andrews fahren. Er konnte wohl kaum zu dem
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