Wenn Es Dunkel Wird
Holzkiste.
»Was ist das für eine Kiste?«
»Keine Ahnung«, meinte Julian und es schien ihn auch nicht sonderlich zu interessieren.
»Was dagegen, wenn ich sie aufmache?«
»Nö, mach nur.«
Ja, ich bin neugierig. Und auf dem Speicher einer alten Villa eine mindestens ebenso alte Holzkiste zu öffnen, die vielleicht dem verschollenen oder ermordeten Villabesitzer, einem verschrobenen Schriftsteller, gehörte, war eine Verlockung, der ich nicht widerstehen könnte.
Zwischen alten Metallträgern und Rohren fand ich eine Stange. Ich staunte über mich selbst, wie schnell ich die Kiste aufgehebelt hatte.
Was hatte ich erwartet?
Goldmünzen? Eine Schatzkarte? Oder doch eher überflüssiges Geschirr und alte Winterkleidung? Mottenzerfressene Wolldecken und afrikanische Holzmasken?
Ich war enttäuscht.
Bücher. Verstaubte, vergilbte Bücher, die den typischen säuerlichen Geruch nach altem Papier verströmten, als ich sie herausnahm und aufblätterte.
Wenn es wenigstens noch Krimis oder Liebesromane gewesen wären, über die hätten wir uns vielleicht amüsieren können, aber es waren ausschließlich englischsprachige Sachbücher.
»Hier Leute, gibt’s Lesestoff!«, sagte ich und hielt ein Buch hoch.
»Zeig mal«, sagte Claas und leuchtete mit der Taschenlampe über die Deckel. »E. F. Anderson, Peyote: The Divine Cactus. Über den Peyote-Kaktus hab ich in der Zehnten mal ein Referat gehalten«, fing er an. »Wächst vor allem in Mittel- und Südamerika. Schon die alten Mexikaner haben sich mit dem Meskalin eine Dröhnung verpasst. Ihr LSD, sozusagen. Die katholischen Missionare haben es ihnen natürlich verboten, daraufhin brauten sie ihr Gesöff, um high zu werden, aus Agaven. Der Tequila war geboren.«
»Was macht ihr denn so lange da oben?«, rief Tammy vom Fuß der Leiter hinauf.
»Mel hat eine Schatzkiste aus dem Dunkel vergangener Jahrhunderte gezerrt!«, rief Claas hinunter und hängte die Taschenlampe so auf, dass sie auf die Kiste schien.
Ich hörte Tammys Schritte auf der Leiter.
Ich kramte schon ein anderes Buch hervor, einen ziemlichen Wälzer. »Kennt einer das hier? Illuminatus!«
»Von Dan Brown? Hab ich gelesen«, meinte Julian aus der hinteren Ecke des Speichers.
»Nee, das hier ist von Robert Anton Wilson.« Ich beobachtete, wie Claas Tammy seine Hand entgegenstreckte, sie aber nicht danach griff. Merkst du endlich, dass du für sie unsichtbar bist, Claas?, dachte ich schadenfroh.
»Wilson?«, sagte Claas und ließ seinen Arm enttäuscht sinken. »Illuminatus! Drei Bände Satire über Verschwörungstheorien, Politik und so.«
»Nee, kenn ich nicht«, kam es aus Julians Ecke, wo er im Dunklen nach dem Stromkabel suchte.
»Ich hab mich durch den ersten Band durchgekämpft«, sagte Claas. »Das Auge in der Pyramide. Nicht gerade leichter Stoff, wenn man alle literarischen und politischen Anspielungen verstehen will.«
»Puh, stinkt das alte Zeug!«, sagte Tammy naserümpfend.
»Hier gibt’s noch was über Cannabis«, sagte ich. »Und hier, Freud und Wilhelm Reich.«
»Gib mal her!« Claas’ Neugierde war geweckt.
Ich hatte schon ein weiteres Buch herausgezogen.
»Kennt jemand den hier? Henry Paige?«
Tammy riss mir den schwarzen Lederband aus der Hand. »He!«, protestierte ich, worauf Tammy bemerkte: »Darf ich dich daran erinnern, Melody, dass das hier zum Inventar unseres Hauses gehört?«
Ich erwiderte nichts.
»Henry Paige?«, fragte Julian auf einmal interessiert. »Das ist doch der Schriftsteller, dem die Villa hier mal gehört hat.«
»Law of Life von Henry Paige«, las er über die Schulter seiner Schwester gebeugt, »wieso hat er hier oben sein Buch versteckt?«
»Bestimmt hat es bloß seine Frau dorthin verfrachtet, als sie das Haus aufgeräumt hat«, meinte Claas.
»Vielleicht hat es ja Dad behalten wollen?«, erwiderte Tammy.
»War wohl ziemlich schräg drauf, dieser Henry Paige. Guckt euch mal das Foto an.« Julian hatte im Buch geblättert und ein Schwarz-Weiß-Foto zwischen den Seiten gefunden.
»Erinnert mich an Mussolini – der stand doch auch immer so wie aus Stein gemeißelt in seiner Uniform!« Claas lachte. »Also, sorry, aber euer Henry Paige sieht in dieser Fantasie-Uniform aus wie einer Operette entsprungen.«
»Sein Blick!«, sagte Tammy. »Wie ein Zombie!«
»Ich wette«, meinte Claas, »der ist an einer Überdosis LSD gestorben und seine Frau hat’s vertuscht. Wegen der Versicherung.«
»Worüber schreibt er denn in dem Buch?«, wollte
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