Wenn Es Dunkel Wird
ich zu spüren, wie ein kalter Luftzug hereinwehte. Ich wollte nicht rufen, tat es aber doch: »Julian?«
Sein Name hallte von den Wänden, doch er antwortete nicht.
»Julian!« Tammy war aufgesprungen und lief in den Gang, und als sie vom Dunkel verschluckt wurde, fragte ich mich, warum ich nicht losgelaufen war, wenn ich ihn doch liebte.
Claas und ich sahen uns an.
Warum war er Tammy nicht hinterhergelaufen? Warum saß er immer noch da? Wie ich?
Tammy war zurückgekommen, da sahen wir ihn. Ein Schatten, eine Gestalt, sie kam vom Eingang auf uns zu. Im Dämmerlicht der Kerzen konnte man nur einen dunklen Fleck erkennen, der sich wankend auf uns zubewegte. Die Gestalt schien in einen Umhang gehüllt und hatte über den Kopf eine Kapuze gestülpt. Ganz langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen – genau auf uns zu.
Ich sah mich um ... mein Gott, oder kam diese Gestalt nur zu mir? Sah nur ich diesen Schatten? Ich stand da, bewegungslos, denn schlagartig wurde mir klar, was es bedeutete.
»Melody hat den Tod gezogen!« Tammy klatschte in die Hände. »Guckt euch das an! Wie furchtbar! Die Arme!« Sie zeigte auf die Gestalt und fing an, glucksend zu lachen.
»Nein!«, schrie ich. »Julian!« Julian – warum rief ich Julian? Weil ich ihm als Einzigem zutraute, uns retten zu können? Oder weil er verschwunden war?
Stille. Absolute Stille.
Die Gestalt in dem Umhang, mit der Kapuze weit ins Gesicht gezogen, schien auf uns zuzuschweben.
Niemand brachte ein Wort heraus. Wir waren aufgestanden und scharten uns zusammen wie eine Herde verängstigter Schafe. Julian war plötzlich wieder da, realisierte ich, aber er war genauso erstarrt wie wir anderen.
Er kommt zu dir, sagte die Stimme in meinem Kopf, der Tod ist für dich gekommen, Mel, weil du ihn verdient hast!
Nicht einmal jetzt konnte ich schreien.
»Henry Paige …«, hörte ich jemanden flüstern, Claas vielleicht oder vielleicht war es auch Tammy. »Das ist Henry Paige!«
Ich trat in einen hellen Fleck am Boden und jetzt merkte ich, dass wir uns, wie einem mysteriösen Zwang gehorchend, unter der Kuppel zusammengedrängt hatten. Als könnte allein der Mond uns jetzt noch beistehen. Oder vielleicht auch, weil er, der Tod – oder Henry Paige, was wussten wir schon? –, mit dem Mond gemeinsame Sache machte.
Die Gestalt war nun so nahe, dass sie mich berühren könnte, wenn sie gleich den Arm ausstrecken würde. Ich wich zurück. Mir schauderte. In mir drehte sich alles, oben und unten verschwammen ineinander, mir war, als lösten sich alle festen Grenzen auf, ich empfand nicht mehr, wo mein Körper aufhörte und das Außen begann. Ich zerfloss und konnte es nicht aufhalten.
War das der Tod? Fühlte sich Sterben so an?
Und doch merkte ich, dass ich mich an Julian gedrängt hatte. Ich spürte seinen kräftigen Herzschlag an meinem Rücken und ich wusste, dass ich mich nicht so leicht ergeben würde.
»He«, rief Claas mit fester Stimme. »Qui êtes-vous? Wer sind Sie?«
Die Gestalt blieb stehen. Drei, vier Schritte trennten uns voneinander. Selbst aus dieser Nähe konnte man wegen der Kapuze kein Gesicht sehen, nur einen dunklen Schatten darunter. Da wurde mir klar, dass der Tod natürlich gar kein Gesicht hatte, dass unter dieser Kapuze nichts war, ein gähnendes Vakuum, in das man gezogen würde. So, genau so wäre es zu sterben.
Ich wartete auf die Stimme, die mich auffordern würde, vorzutreten, mich meiner Sünden zu schuldig zu bekennen und ihm zu folgen. Und auf dem Weg nach draußen würde der Tod mir seinen Umhang umlegen und es würde modrig und nach Verwesung riechen. Und dann würde ich aufhören zu sein.
Vielleicht würde ich ersticken, vielleicht aber nur weiter aufgelöst …
Ein Flüstern kam unter der Kapuze hervor.
»Henry Paige … I am Henry Paige.« Ein widerliches Lachen folgte.
»Henry Paige ist tot!«, rief Claas, und was dann geschah, spielt sich in meiner Erinnerung immer wieder ab, wie ein Videoclip, den man im Vollrausch gedreht hat und im nüchternen Zustand rückwärts betrachtet.
Claas hielt etwas Blitzendes in der Hand, ich überlegte noch, was es sein könnte, als er sich schon auf die Gestalt warf. Jemand – Tammy vielleicht? – brüllte.
»Nein!«
Da stürzte Julian an mir vorbei und endlich begriff ich, dass das Blitzende der Dolch war, mit dem Claas in diesem Moment auf die Gestalt einhieb. Der Boden unter meinen Füßen gab nach. Blut spritzte.
Claas hatte die Gestalt an der Schulter getroffen. Henry
Weitere Kostenlose Bücher