Wenn Es Dunkel Wird
nicht, aber er war zu schlaff.
Claas zog eine Geldbörse aus der Gesäßtasche und klappte sie auf. Fünfzehn Euro und ein paar Münzen, ein paar Plastikkarten und ein Führerschein.
»Patrick Brissart«, las Claas und sah Julian fragend an.
Julian schluckte. »Der Sohn – von Vincent.« Er richtete sich mühsam auf. Da drehte er sich um und ich hörte, wie er sich übergab.
»Ich hab gedacht, er ist erst vierzehn oder so«, sagte ich tonlos. Er war siebzehn, so alt wie wir.
Mit aufgerissenen Augen starrte Tammy auf den Toten. »Mein Gott!« Ihre Worte kamen wie ein Schluchzen. »Was machen wir jetzt? Wir haben ihn umgebracht!«
Wir waren ganz still, während Claas am Hals nach dem Puls tastete.
»Los, wir müssen eine Herzmassage machen!«, drängte ich und Julian kniete sich schon neben Claas.
»Jetzt!«, sagte Julian und schlug dem Toten mit der Faust aufs Brustbein. »Claas, beatme ihn!«
»Nee!« Claas schüttelte den Kopf und wendete sich hastig ab. »Ich … ich kann das nicht!«
Ich stieß ihn weg, beugte mich bis auf wenige Zentimeter über den leblosen Körper, als die Augenlider des Jungen blinzelten.
Julian schlug noch einmal auf die Brust.
Und plötzlich regte er sich. Er atmete wieder. War das möglich?
»Er lebt!«, rief Tammy aufgeregt. »Gott sei Dank, wir haben ihn nicht umgebracht! Seht doch! Und er will uns etwas sagen!«
Eindeutig: Er sah uns aus seinen rot aufgequollenen Augen an und er bewegte die aufgeplatzten Lippen.
Gebannt starrten wir in das blutig geschlagene Gesicht. »Was?«, Tammy kniete am Boden. »Was hat er gesagt?«
»Seid doch mal still!«, sagte ich und näherte mein Ohr seinem Mund.
Wir warteten. Und die Sekunden verstrichen. Plötzlich brach es aus Claas heraus: »Er wird uns anzeigen! Genau das wird er tun. Das ist doch klar!« Claas wirkte mit einem Mal wie nüchtern. »Und dann wandern wir alle ins Gefängnis!«
»Nein, das wird er nicht tun …«, protestierte Tammy.
»Ach, woher willst du das wissen? Willst du das Risiko eingehen? Wolltest du nicht Model werden? Macht sicher Spaß im Knast!«
»Claas!« Das war Julian.
»Was?« Wütend sah Claas ihn an. Er war jetzt völlig außer sich. »Wollt ihr euch die Zukunft verbauen? Ich jedenfalls will mein Leben nicht im Gefängnis verbringen!«
»Denkst du, ich?« Julian baute sich vor ihm auf. »Aber Fakt ist: Er lebt.«
»Ich hab’s!«, sagte Tammy und wir drei wandten uns ihr zu. Das Haar klebte ihr im Gesicht, ihre Augen waren gläsern vom Alkohol – und ihr Gesicht war voller Blutspritzer. »Er hat mit uns Claas’ Geburtstag gefeiert«, fing sie an und strich sich mit einer fahrigen Geste die Strähne aus der Stirn, »hat zu viel getrunken und … ist gestürzt … und …«
»Klar und zufällig in den Dolch gefallen, oder was?«, unterbrach ich sie.
»Es war eben ein Unfall!«, beharrte Tammy trotzig. »Vier Aussagen gegen eine. Sie müssen uns glauben!«
Ihr Satz verhallte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis Julian kopfschüttelnd sagte: »Wir könnten ihm Geld anbieten.«
Claas lachte auf. »Das ist ja so typisch für euch! Ihr glaubt, alles mit Geld kaufen zu können!«
Julian fuhr zu Claas herum, stellte sich nah vor ihn. Er überragte ihn um einen halben Kopf. »Ich hab’s immer gewusst, Claas«, sagte Julian. »Du hast meinem Vater und uns allen immer nur was vorgespielt. In Wahrheit hast du uns verachtet.«
»Jetzt hört doch mal auf!«, ging ich dazwischen. »Wir müssen jetzt zusammen überlegen …«
Ein Stöhnen ließ uns alle umdrehen.
25
Ich weiß nicht mehr, wer es zuerst aussprach. Aber ich habe noch genau vor Augen, wie sich seine Halssehnen spannten, sein Mund ein Stück öffnete, als wollte er etwas sagen – wie erst seine Hand am Boden zitterte, dann sein ganzer Körper. Und er dann abrupt erschlaffte – und sein Kopf zur Seite fiel.
Tammy stürzte sich neben ihn und nahm seinen Kopf in die Hände. Seine Augen starrten reglos ins Leere. Er war tot.
Tammy schlug die Hände vors Gesicht. »Julian! Er darf nicht tot sein! Was machen wir denn jetzt?« Sie schluchzte. Von Claas kam ein leiser Fluch.
Der Boden unter meinen Füßen wankte. Nein, es durfte nicht wahr sein. Es durfte einfach nicht sein!
Julian half Tammy vom Boden auf.
»Er hat doch eben noch gelebt …« Sie fing an zu weinen.
Julian drückte seine Schwester an sich, legte schützend den Arm um ihren Kopf.
Ich schluckte. Selbst jetzt war ich eifersüchtig, was war nur los mit mir? Und doch
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