Wenn Es Dunkel Wird
Paige – oder wer immer es war – sank auf die Erde, Julian stürzte sich auf Claas. Dann waren da nur noch Körper, Fäuste, Beine und Arme, Claas, Julian, ja, sogar Tammy sah ich da am Boden und dazwischen der dunkle Umhang. Mir schoss der absurde Gedanke durch den Kopf, ob man sich auf diese Weise mit Henry Paige – oder dem Tod anlegen durfte und welche Strafe man auf sich ziehen würde.
Dann, plötzlich, war es still oder erinnere ich mich bloß nicht mehr an die schrecklichen Schreie? An das dumpfe Geräusch der Schläge und Tritte, an das Ächzen und Wimmern?
Ich weiß es nicht. Ich stand bewegungslos da.
Oder belüge ich mich?
Will ich einfach nicht wahrhaben, dass auch ich mitgemacht habe?
Habe ich nicht auch dort auf der Erde gelegen und zugetreten? Spüre ich nicht noch immer, wie meine Faust in einen Bauch schlägt? Wie mein Bein ausholt und mein Fuß in etwas Nachgebendes tritt, wie sich meine Finger in ein Gesicht krallen? Wie meine Hände den Umhangstoff zu zerreißen versuchen, mir fremder Atem ins Gesicht keucht?
Wir waren ein Rudel Tiere, das über einen Eindringling herfiel.
Julian hockte rittlings auf ihm, hatte ihn an den Schultern gepackt und schlug ihn immer wieder mit dem Oberkörper auf die Erde.
Tammy trat ihm in den Unterleib, Claas boxte ihm in die Seite und ins Gesicht – nur was ich tat, weiß ich nicht. Und doch habe ich so viele Nächte wach gelegen mit diesen Bildern im Kopf, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich will mich nicht erinnern.
Mit einem Mal war es still. In diesem Moment kehrte ich in meinen Körper zurück. Und ich nahm die Szene wahr: Ich kniete im Mondkreis auf der Erde und eine halbe Armlänge von mir entfernt: Julian, Claas und Tammy und zwischen ihnen der dunkle Umhang.
Die Kapuze war zurückgefallen und der Mond beschien eine blutige Masse. Aufgeplatzte Lippen, darüber so etwas wie Nasenlöcher und Augen, die ins Nichts starrten. Ich kroch neben Julian, der auf der Gestalt hockte, als müsste er immer noch gewappnet sein, dass er sich plötzlich aufrichtete.
»Ihr habt den Tod getötet«, sagte ich tonlos.
Tammy, die neben dem Kopf kniete, sagte: »Er hat uns beobachtet.« Es klang wie eine Rechtfertigung.
Der Tod? Mein Kopf dröhnte. Das alles habe ich nur geträumt, oder? Das lag am Absinth, ich müsste nur mal an die frische Luft und dann würde sich der Nebel schon wieder lichten. Das eben, das war doch nicht wahr? Das konnte nicht wahr sein! Ich lachte.
»Leute, kommt, gehen wir nach Hause, das ist doch alles hier völlig idiotisch!« Ich schüttelte den Kopf. »Der Tod ist doch bloß ’ne Karte! Sie ist sogar noch nicht mal schlimm. Sie meint nur Veränderung! Loslassen vom Alten, damit Neues entstehen kann …«
Da sah ich plötzlich das Blut in ihren Gesichtern. Über Julians Stirn zog sich eine rote, glänzende Spur, Claas’ Wangen waren blutbeschmiert, Tammy hatte Sprenkel wie Sommersprossen im Gesicht. Und erst ihre Kleider! All das Blut!
Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff oder vielmehr bis ich glaubte, begriffen zu haben. »Ihr habt ihn umgebracht.«
Da richtete sich Tammy auf: »Ihr? Sieh doch mal deine Hände an!«
Ich streckte meine Hände von mir. Ich starrte auf meine Handflächen. Blutverschmiert. Ich streckte sie noch weiter von mir, als könnten sie unmöglich zu mir gehören. »Das ist eine Täuschung! Das ist alles bloß Einbildung, Halluzination! Julian, bitte, sag, dass das alles nur in unserer Fantasie existiert! Bitte! Julian!« Ich nahm seine blutige Hand in meine. »Bitte, bitte, sag was!«
Julian schwieg.
»Claas! Bitte!« Was glaubte ich? Dass Claas mit seiner Vernunft alles als Vision erklären könnte? Als Effekt irgendwelcher physikalischen Abläufe? Und dass wir eigentlich zu Hause in München saßen?
Statt einer Antwort erhob er sich. Seine Kälte in der Stimme jagt mir noch heute einen Schauder über den Rücken. »Kennt ihr den?«
»Ich weiß nicht.« Julians Stimme zitterte.
Claas bückte sich, schob den Umhang auseinander. Er hatte ein T-Shirt, billige kurze Hosen und Turnschuhe an. Die Kapuze war zurückgefallen und legte dichtes dunkles, kurz geschnittenes Haar frei. Ich überlegte, ob ich ihm schon mal begegnet war, in Les Colonnes vielleicht, aber von seinem Gesicht war nicht mehr allzu viel zu erkennen.
»Helft mir mal«, sagte Claas und versuchte, den Körper auf die Seite zu drehen. Zusammen schafften wir es. Nicht dass der Körper so schwer gewesen wäre, überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher