Wenn Es Dunkel Wird
versuchte zu schlafen.
Der nächste Morgen.
Ein paar Sekunden war die Welt in Ordnung. Als Sonnenstrahlen auf mein Gesicht fielen und ich das Zwitschern der Vögel hörte – und ja, auch das Rauschen des Meeres.
Doch dann traf mich die Erinnerung mit voller Wucht. Ohne den Absinth-Nebel präsentierte sich die Wirklichkeit klar und brutal. Zuerst versuchte noch etwas in mir, das, was passiert war, als bloße Fantasie oder als schlechten Traum abzutun. Aber dann fiel mein Blick auf meine Hände und ich konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Unter meinen Fingernägeln klebte noch immer getrocknetes Blut.
Ich rannte, so schnell ich konnte, ins Bad und schrubbte mir mit einer Bürste die Nägel. Meine Finger waren rot und brannten. Hoffte ich, dass ich so einfach die Schuld unserer Tat loswerden könnte? Mit ein bisschen Wasser und Seife?
Wie sehr wir uns doch selbst belügen, wenn wir in Panik sind.
Als ich aus dem Bad ging, begegnete mir Julian. Ich wollte ihm in die Augen sehen, ja, ich suchte seinen Blick, aber er brachte nur ein leises »Hi« heraus und drängte sich dann an mir vorbei.
Hast du wirklich geglaubt, Mel, er könnte dir in die Augen sehen, wenn du eben selbst im Spiegel nicht dazu fähig warst?
Nur noch fünf Stunden, dann fuhr unser Bus von Les Colonnes nach Nizza ab, wo Claas und ich in den Zug nach Hause steigen würden. Tammy und Julian hatten vor, am nächsten Tag von Nizza nach München zu fliegen. Zwei Tage später wären auch die Schulferien vorbei.
Wir packten unsere Sachen zusammen und gingen uns einander, so gut es ging, aus dem Weg. Keiner wollte durch die Anwesenheit der anderen an den Albtraum erinnert werden.
Ich hatte auch noch die absurde Vorstellung, dass wir mit unserer Abreise nicht nur diesen Ort, sondern auch unsere Tat zurückließen.
»Wer weiß, wann ihn jemand zu suchen anfängt«, sagte Claas, als wir alle in der Küche standen und auf das Brodeln der Espressokanne warteten. »Wohnt er denn noch bei seinen Eltern?«
»Wohnte«, berichtigte ich automatisch. Alle sahen mich an. »Tut doch nicht so«, sagte ich, »er ist tot! Wir haben ihn ermordet! Und seine Leiche in diese Felsspalte geworfen!«
»Hör auf, uns zu belehren!«, fuhr Claas auf.
»Was, habt ihr’s etwa schon vergessen?«, entgegnete ich nun wütend.
»Mel …«, begann Claas beschwichtigend, doch ich schnitt ihm das Wort ab: »Auch wenn er uns nicht mehr bei der Polizei beschuldigen kann: Wir haben es getan und wir sind schuldig!«
In diesem Moment ließ uns die Türklingel zusammenzucken.
»Die Polizei!«, flüsterte Tammy. In ihren Augen stand die pure Panik.
»Unmöglich«, meinte Claas in seiner üblichen analytischen Art, »das ist einfach unmöglich.«
Ich war gelähmt vor Angst. Jetzt mussten wir uns entscheiden: Sollten wir es gleich zugeben oder sollten wir alles abstreiten?
»Wir müssen aufmachen«, sagte Julian und setzte sich schon in Bewegung. Er wirkte still und erschöpft. Sein Strahlen, das mich am Anfang so verzaubert hatte, war verschwunden. »Die wissen, dass wir da sind.«
»Die Polizei? Wir dürfen nichts zugeben! Auf keinen Fall! Hört ihr! Ich gehe nicht ins Gefängnis!« Tammys Augen flackerten, während sie mit beiden Händen die leere Tasse umklammerte, als würde sie so Halt finden. »Julian, tu doch was! Ich … ich will nicht ins Gefängnis! Ich …!«
Ihre Selbstsicherheit und Arroganz waren wie weggewischt. Auch ihre Schönheit, mit der sie sonst alle Blicke auf sich zog, wirkte jetzt stumpf.
Julian holte Atem. »Wir geben nichts zu, verstanden?«, sagte er und sah mich und Claas beschwörend an. »Wir haben Patrick nicht gesehen.«
Tammy nickte.
»Und wenn uns Yannis doch beobachtet hat?«, warf ich ein. Mir erschien alles so aussichtslos. Würde nicht sowieso herauskommen, was wir getan hatten?
Es klingelte noch einmal.
»Wir waren ein bisschen spazieren«, sagte Claas schnell, »weil ich Geburtstag hatte. Wir wollten den Blick aufs Meer und Les Colonnes genießen.«
Niemand von uns hatte einen besseren Vorschlag und so ging Julian zur Tür. Mein Herz schlug im ganzen Körper, das Blut rauschte in meinen Ohren, mein Mund war trocken.
Ich war gerade in der Gegend, hörte ich schon in meinem Kopf die Stimme von Yannis, und da dachte ich, ich schau mal rein. Gestern Nacht ist der Sohn von Vincent nicht nach Hause gekommen. Haben Sie ihn zufällig gesehen? Oh, entschuldigen Sie, aber das da auf Ihrer Stirn, da ist … das ist ja
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